

Die Brille: einst Sehbehelf, heute Accessoire
Ulrich Rüdenauer in FALTER 49/2019 vom 06.12.2019 (S. 34)
Die Geschichte der Brille reicht weit zurück, bis zu Kaiser Nero, der den Gladiatorenkämpfen mit einem Smaragd vor Augen zugesehen hat. Zugegeben: Dieser Smaragd hatte wenig mit der Korrektur einer Sehbehinderung zu tun. Es handelte sich bei ihm eher um eine Frühform der Sonnenbrille. Aber auch schon zu dieser Zeit verwendete man Glaskugeln, durch die hindurch kleine Schriften besser zu erkennen waren.
Später, im Mittelalter, kamen Lesesteine hinzu – geschliffen aus Beryll, klaren Kristallen. Schon der Begriff „Beryll“ weist auf die direkte Weiterentwicklung hin, die Stefana Sabin mit ihrer „Kleinen Kulturgeschichte der Brille“ in prägnanter Form beschreibt. Eine schleichende Revolution sei in der Erfindung und Verbreitung der Brille zu sehen.
Tatsächlich kann man von einer entscheidenden Umwälzung sprechen: Die Moderne, so Sabin, beginnt mit einem Paradigmenwechsel. Sehschwäche verwandelt sich von einer Krankheit, die mit Salben und Tinkturen behandelt wurde, in eine Behinderung, die sich mit technischen Hilfsmitteln beheben ließ. Hellsichtig führt uns die Literaturwissenschaftlerin auf knapp 100 Seiten durch die Jahrtausende und greift einzelne Wegmarken heraus – etwa den Streit zwischen den Nachbarstädten Pisa und Florenz, wer denn nun wirklich die Brille im heutigen Sinne erfunden habe.
So gelangen wir immer weiter in die Gegenwart, die Brille taucht hier häufig in Selbstbildnissen der Kunst auf. Papier und Brille signalisieren bald Gelehrsamkeit, sie wird gar zur Metapher des Dichtens. Spätestens seit Rembrandt erscheint sie aber auch als Merkmal des Geldverleihers und Wucherers.
Immer wieder gibt es ästhetische Wandlungen: Mal verwendet man die Brille zur Selbststilisierung, mal wird aus Eitelkeit auf sie verzichtet. Durch George Cukors Kinoklassiker „The Women“ von 1939 etwa, in dem eine der Darstellerinnen, Rosalind Russell, eine hübsche Brille trug, wurde sie endgültig zum modischen Accessoire.
Ein kurzweiliger Essay, gelesen in einem Augenblick.