

Wie ein Herzenswunsch ein Rechenschaftsbericht wird
Anna Goldenberg in FALTER 36/2024 vom 06.09.2024 (S. 18)
Mai 1950, ein neugeborener Bub soll in die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien aufgenommen werden. Doch er ist nicht beschnitten, wie es die jüdische Tradition vorsieht, weil der damalige Oberrabbiner die Familie als nichtjüdisch einstuft. Die Gemeindevertreter setzen sich über ihr religiöses Oberhaupt hinweg und tragen den Buben dennoch ein.
Dezember 1983, das koschere Restaurant Caesarea eröffnet im Gebäude der IKG in der Wiener Innenstadt. Jemand hat den damaligen FPÖ-Abgeordneten Holger Bauer eingeladen; wer es war, ist unklar. Im Kultusvorstand, dem obersten Organ der Gemeinde, wird heftig diskutiert. Es fällt der Entschluss, den Kontakt mit der FPÖ auf das "rein Formale" zu beschränken.
April 1997, die reformjüdische Bewegung Or Chadasch will schon seit Jahren in Wien eigene Strukturen aufbauen; die IKG sieht die Einheitsgemeinde, die orthodoxe und progressive religiöse Strömungen unter einem Dach vereint, in Gefahr. Endlich einigt man sich darauf, dass das Familienrecht bei der IKG bleibt. 2004 wird die Synagoge von Or Chadasch eingeweiht.
"Ein Neuanfang" ist der Titel der beiden Bände, in denen auf gut 1000 Seiten die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Wien von 1945 bis 2012 erzählt wird. Der Autor ist Raimund Fastenbauer, von 2006 bis 2019 selbst Generalsekretär der IKG. In Auftrag gegeben und mit 300.000 Euro ausfinanziert hat das Projekt die Judaica Forschung gemeinnützige GmbH von Ariel Muzicant, der von 1998 bis 2012 Präsident der IKG war und aktuell noch deren Ehrenpräsident ist. Zwei Bücher -über jüdisches Schulwesen und Sozialwesen -sind bereits erschienen, zwei weitere Bücher, über jüdische Sammlungen sowie österreichisch-jüdische Biografien, erscheinen in den nächsten Monaten.
Die interne Arbeit der IKG in der Zweiten Republik ist bisher kaum geschichtlich aufgearbeitet worden. Vor der Shoah hatte die Gemeinde eine eigene Historikerkommission; das Projekt soll daran anknüpfen. Einen "Herzenswunsch" habe sich der geschichtsinteressierte Muzicant damit erfüllt. Er selbst besitzt auch eine Sammlung österreichischer Judaica.
Gleichzeitig sind die Bände auch so etwas wie ein Rechenschaftsbericht. Beispielsweise, wenn es um die IKG unter der ersten schwarz-blauen Regierung geht - jener Zeit, in der Muzicant um ein Restitutionsabkommen kämpfte und Jörg Haider ihn antisemitisch beschimpfte.
"Es wurde nichts beschönigt", sagt Klaus Davidowicz vom Institut für Judaistik der Universität Wien, der die wissenschaftliche Leitung des Projekts innehatte. Die Bände wurden von unabhängigen Forschern begutachtet, Muzicant habe sich nie inhaltlich eingemischt.
Es ist keine leichte Lektüre, eher ein Nachschlagewerk, mit vielen Fußnoten und Faksimiles, vor allem aus dem Archiv der IKG. Doch im Lesen ergibt sich dennoch eine Erzählung über Österreich in der Zweiten Republik: aus der Perspektive einer Gemeinde, die knapp der völligen Vernichtung entkam und im Nachkriegsösterreich alles andere als willkommen war. "Ein Neuanfang" macht deutlich, dass nach den deprimierenden Jahrzehnten inzwischen ein neues Selbstbewusstsein der Jüdinnen und Juden entstanden ist.
Das Buch zeigt die Diversität der Kultusgemeinde, die vielen internen und von außen herangetragenen Konflikte, die sich zu einer großen Frage verdichten: Wie tun wir weiter, was heißt es heute, in Österreich als jüdischer Mensch zu leben? Die Antwort darauf wird weiter verhandelt.