

Das Z-Wort ist ein No-Go und kommt dennoch vor
Armin Thurnher in FALTER 41/2018 vom 12.10.2018 (S. 13)
Eine Anthologie versammelt Gedichte von Roma und Sinti, übersetzt aus dem Romanes und 21 weiteren Sprachen
Einzahl: der Rom, die Romni, der Sinto, die Sintezi. Mehrzahl: Roma und Sinti. Gegenteil: Non-Rom, Non-Sinti. Gleich zu Beginn der Anthologie „Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti“ wird zuerst einmal definiert und klargestellt. „Zigeuner“ ist ein No-Go, gilt als „Z-Wort“, obgleich manche Roma und Sinti diesen Begriff bewusst benutzen, um zu provozieren „oder gar ein eigenes ,Zigeuner‘ oder ,Gipsy‘-Label zu verwalten“. Das schreibt Dotschy Reinhardt, Vorsitzende des Landesrats der Roma und Sinti in Deutschland, in seinem Vorwort.
Dennoch kommt das Z-Wort in vielen Gedichten dieses Bandes vor. Weil viele der Übersetzungen vor 1990 entstanden sind, als das Wort noch gang und gäbe war – erklärt der Herausgeber Wilfried Ihrig. Es ist alles im Fluss.
Vor etwa tausend Jahren wanderte die ethnische Minderheit der Roma aus Indien in Europa ein. Roma ist der Überbegriff für Roma und Sinti. Die Roma geben keinen konkreten Herkunftsort an, die Sinti nennen Sindh, ein Gebiet im heutigen Pakistan.
Die Aufnahmekriterien für die Anthologie erklärt Reinhardt so: „Wir finden in diesem Atlas eine Sammlung von Autorinnen und Autoren, die sich irgendwann zu ihrem Hintergrund als Sinteza und Sinto oder Romni und Rom geäußert haben oder deren Romno-Hintergrund mehr oder weniger glaubhaft über Dritte (oft Angehörige) dokumentiert wurde. Hinzu kommen Gedichte der Jenischen und Traveller, die aber ohne diesen Sinti- oder Roma-Hintergrund sind.“
Es gibt einen kulturellen Internationalismus der Roma, was aber keineswegs bedeutet, dass sie sich von den Ländern, in denen sie leben, separatistisch absetzten. Im Gegenteil. Roma sind integriert, wenn auch oft nicht akzeptiert. Sie schließen sich den jeweils dominanten Religionsgemeinschaften an, es gibt katholische, muslimische und evangelische Roma. Atheistische Roma gibt es hingegen kaum.
Dass die Gedichte dieser Sammlung inhomogen ausfallen, wenn die Kriterien so allumfassend sind, versteht sich. Wie es keine Roma-Religion gibt, so gibt es auch keine Roma-Lyrik, wohl aber von Roma verfasste Lyrik.
Was alle Roma eint, ist ihre Verfolgung und ihre Ausgrenzung, die historische durch die Nationalsozialisten und die aktuelle durch die neonationale Rechte. 500.000 Roma wurde von den Nazis ermordet; der Völkermord an ihnen wurde erst 1982 anerkannt. Viele Gedichte der älteren Generation kommen davon nicht los, so auch Österreichs bekannteste Roma-Dichterin Ceja Stojka: „Ich / Ceija / sage / Auschwitz lebt / und atmet / noch heute in mir“.
Manche Roma sind uns nicht als solche bekannt. Selbst Dotschy Reinhardt war überrascht, als sie erfuhr, dass Charlie Chaplin ein Rom war. Sein Sohn Michael behauptet, Beweise dafür zu haben. Im Abschiedsgedicht des kanadischen Dichters Ronald Lee an Yul Brynner ist davon die Rede, dass sich Brynner als Roma bekannt habe: „Du hast dich geoutet, / um unsere Brüder und Schwestern zu repräsentieren, / als du am meisten gebraucht wurdest.“
Die Herausgeber Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki haben Beträchtliches im Sammeln geleistet. Schriftlich äußern sich Roma erst seit etwa 1900, die meisten schreiben nicht auf Romanes, sondern in der jeweiligen Landessprache. Und selbst bei diesen Sprachen lässt sich erkennen, wie sehr die europäischen Dinge im Fluss sind. Das Buch ordnet die Gedichte nach Landessprachen; im Kapitel Jugoslawien und Nachfolgestaaten (das einige der besten Gedichte enthält) gibt es Übersetzungen aus dem Kroatischen, Serbischen und Serbokroatischen, dem Romanes und dem Englischen. Insgesamt wird aus 21 Sprachen und dem Romanes übersetzt.
Die Herausgeber verzichten auf poetologische Einordnungen (die wären kaum möglich) und trösten uns dafür mit einem detaillierten Register der Autorinnen und Autoren und einem Blick auf einen dichterischen Kontinent, von dem die meisten von uns bisher nichts geahnt haben.