

Über die Macht der Poesie in finsteren Zeiten
Kirstin Breitenfellner in FALTER 52-53/2020 vom 25.12.2020 (S. 40)
Es gibt Bücher, über die man sich nicht kurz fassen kann, und das nicht wegen ihres Umfangs, sondern wegen ihres inhaltlichen Reichtums. Dazu gehört ganz vorneweg Nadeschda Mandelstams Autobiografie "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe". 1899 in eine bürgerliche jüdische Familie geboren, lernte sie mit 19 den zehn Jahre älteren, bereits bekannten Dichter Ossip Mandelstam kennen.
Das unbeschwerte Liebesglück währte nur kurz, denn die Zeiten waren finster und Ossip nicht gewillt, dazu zu schweigen. Auf dem Höhepunkt der sogenannten "Entkulakisierung" von 1929 bis 1933, der eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen, verfasste er ein Gedicht über den "Bergmenschen im Kreml", Josef Stalin, und riskierte damit seine eigene Ermordung. Bis zur ersten Inhaftierung dauerte es ein halbes Jahr, bis zu seinem Tod fünf.
Diese Zeit der Angst, Flucht und Verbannung steht im Mittelpunkt der "Erinnerungen", die 1970 im Westen erschienen und Nadeschda Mandelstams Weltruhm begründeten, aber auch die Wiederentdeckung Ossip Mandelstams einleiteten. Sie erzählen nicht nur vom Schicksal eines der wichtigsten russischen Dichter, sondern auch eine der ergreifendsten Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts. Die Witwe überlebte ihren Mann um 42 Jahre und rettete seine Gedichte für die Nachwelt.
Die eigentliche Größe dieses Werks macht die Analyse des Totalitarismus aus, nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch anhand von Alltagsbeobachtungen und Porträts von Zeitgenossen. Die Politik der Angst, die Denunziationen und Deportationen, die Kunst der Realitätsverweigerung und die Bürokratisierung des Bösen werden auf unheimliche Weise greifbar. Darin stehen die "Erinnerungen" auf einer Stufe mit Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem" von 1961.
Darüber hinaus legen sie Zeugnis ab von der Macht der Poesie und der Freiheit der Wahl -mitzumachen oder sich zu verweigern, zu schweigen oder zu reden. Bleibt zu hoffen, dass der Verlag Band zwei und drei dieses Monumentalwerks nachreicht.