

„Jeder kann etwas tun“
Christopher Wurmdobler in FALTER 37/2015 vom 09.09.2015 (S. 36)
Cecily Corti betreibt in Wien vier Einrichtungen für Obdachlose. Jetzt erscheinen ihre Memoiren. Im Interview erklärt sie, was soziales Engagement mit uns macht
„Mitleid“, sagt Cecily Corti, „Mitleid ist nichts für mich.“ Corti, 75, hat in einem Alter begonnen, sich für Menschen in Not einzusetzen, in dem andere an den Ruhestand denken. Die Witwe des Regisseurs Axel Corti betreibt in Wien vier Einrichtungen für Obdachlose. Ihr soziales Engagement mit der
VinziRast, für das sie mehrfach ausgezeichnet wurde, schließt die direkte Konfrontation ein; sie will Teil einer Situation sein und nicht nur Almosen verteilen. Das ist auch der Grund dafür, dass sie – gemeinsam mit Ehrenamtlichen – regelmäßig Nachtdienste in der Meidlinger Notschlafstelle übernimmt. Charity-Lady geht jedenfalls anders: „Man muss auf dem Grund gewesen sein“, lautet der Titel von Cecily Cortis Memoiren; das Buch wird diese Woche präsentiert.
Falter: Sie kommen gerade aus dem Nachtdienst in der VinziRast. Hatten Sie eine ruhige Nacht, Frau Corti?
Cecily Corti: Ja, ganz ruhig. Trotzdem habe ich schlecht geschlafen. Da gehen die ungelösten Dinge durch meinen Kopf. In der Ausschließlichkeit der Stille ist alles viel intensiver. In der Nacht zuvor habe ich aber wunderbar geschlafen.
Da hatten Sie auch Nachtdienst?
Corti: Ja, zweimal hintereinander und morgen noch einmal zwei hintereinander. Das kommt aber selten vor. Jetzt sind gerade viele Mitarbeiter auf Urlaub. Mir ist der Nachtdienst sehr wichtig. So ein Dienst beginnt um sechs, ab halb sieben nehmen wir die Menschen auf und dann ist bis zehn viel Wirbel. Ab halb elf ist Ruhe und um halb sieben in der Früh geht’s wieder weiter. Dazwischen können wir schlafen. Wenn nicht gerade jemand an der Türglocke läutet oder ein Gast aus dem Schlafraum kommt und sagt „Der Nachbar schnarcht so arg“ oder jemand eine Kopfwehtablette braucht. Aber in der Regel ist es ruhig. Es muss nachts absolute Stille sein, auch im Hof. Wegen der Nachbarn.
Als Sie vor 13 Jahren das Projekt VinziDorf beginnen wollten, waren Nachbarn nicht erfreut, dass da ein Dörfchen für Obdachlose kommen sollte.
Corti: Der Pfarrer, der uns damals das Grundstück in Aspern geben wollte, war sehr großzügig. Die ganzen Eigenheimbesitzer, die da ihre Häuschen hatten, die waren panisch, und einzelne Leute des Pfarrgemeinderates konnten das auch verstehen. Die haben gefragt, warum ich das Dörfchen nicht dort errichte, wo ich wohne. Da wollte ich nicht sinnlos weiterkämpfen.
Sie haben gleich wieder aufgegeben?
Corti: Es bringt nichts, wenn 1200 Leute eine Unterschriftenaktion machen und total dagegen sind. Die wollten alle aus der Kirche austreten, wenn man uns das Grundstück gibt. Der Pfarrer Pucher hat mich damals beeindruckt. Er meinte, diese Leute brauche man eh nicht. Aber ich hab gewusst, dass so ein Kampf nur unnütz Kraft verschwendet.
Bei Ihrem bislang letzten Projekt, der VinziRast-mittendrin, gab es da auch Proteste?
Corti: Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Schon während der Planung sind wir zur Bezirksvorsteherin, die total dafür war. Sie war richtig begeistert und meinte, sie erwarte sich keinen Widerstand, weil hier das Umfeld zwar bürgerlich, aber offen ist. Wir haben dann im noch unrenovierten Haus einen Flohmarkt gemacht – am Ende hatten wir mehr als zu Beginn, weil einfach viele gekommen sind und uns Sachen gebracht haben. Menschen miteinzubeziehen, sie zu informieren, ist uns ganz wesentlich.
Die VinziRast-mittendrin ist deshalb besonders, weil sie eine Durchlässigkeit hat. Ehemals Obdachlose wohnen hier mit Studierenden, es gibt ein Lokal im Erdgeschoß ...
Corti: Wir wussten, dass das Lokal Menschen anzieht. Oder besser, wir haben es gehofft. Der Architekt hat dieses Konzept der Durchlässigkeit im Haus in der Planung toll umgesetzt. Jedes Stockwerk hat drei Wohnungen jeweils mit kleiner Küche und Bad. Jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer. Zudem gibt es auf jedem Stockwerk eine Gemeinschaftsküche und einen Gemeinschaftsraum. Es ist so viel Offenheit da; ohne dass ein Druck ausgeübt wird, gibt es immer wieder das Angebot zu gemeinschaftlichen Tätigkeiten.
Ihr soziales Engagement begann mit Anfang fünfzig, nachdem Ihr Mann gestorben ist. Haben Sie nach einem Sinn gesucht?
Corti: So würde ich das nicht sagen. Es hat dann noch Jahre gedauert. Einmal war ich zwei Monate allein in Indien, dann in Guatemala. Da kam dieser Krebs dazu ...
… die Erkrankung erwähnen Sie in Ihrem Buch nur am Rande ...
Corti: Na ja, das war schon ein starker Einschnitt – das Wissen, dass alles schnell vorbei sein kann. Wenn noch Zeit bleibt, dann nutze diese Zeit. Ich habe mich gefragt, was mir leidtun würde, wenn es jetzt vorbei wäre und ich es nicht getan habe.
Was war das?
Corti: Herauszufinden, wonach die größte Sehnsucht besteht.
Sie meinen: Menschen zu helfen. Mitleid ist dabei keine Motivation für Sie?
Corti: Mitleid? Nein. Für mich ist Mitleid nicht das Richtige. Es geht um Mitgefühl: ein Teil der Situation zu werden, wenn man mit Menschen konfrontiert ist, die in Not sind. Gestern Abend hatten wir wieder eine Frau und kein Bett für sie. Sie wollte auf dem Boden schlafen. Ich musste ihr sagen: Bei uns schläft niemand auf dem Boden.
Sie haben sie wegschicken müssen?
Corti: Das kommt öfters vor. Das, was geht, geht. Wir kennen unsere Grenzen. Und hätten wir noch drei Notschlafstellen, gäbe es immer wieder Menschen, die wir nicht aufnehmen können.
Was ist das für ein Gefühl, jemanden wegzuschicken?
Corti: Inzwischen ist es mir leider vertraut. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich darauf. Einige werden aggressiv und nennen uns Rassisten. Da werde ich bös; wir und Rassisten! Aber das ist wohl das, was sie oft erlebt haben. Wir bekommen auch ein Gespür dafür, was uns alles an Geschichten erzählt wird. Jedenfalls ist es immer wieder eine Herausforderung, gerade da ruhig zu bleiben. Mit dem Mitleid habe ich wirklich ein Problem. Ich weiß von einem Obdachlosen, der alle Notschlafstellen meidet, weil er sich erst dort als Obdachloser fühlt. Selbst die Helfer in den Suppenküchen könnten es nicht vermeiden, ihm das Gefühl zu vermitteln, sich als besserer Mensch zu empfinden. Das ist etwas sehr Subtiles. Das Geben soll ja den Empfangenden ermächtigen und nicht den Gebenden. Es ist so wichtig, keine Abhängigkeiten zu schaffen, absichtslos zu handeln, wirklich nichts zu erwarten. Vor allem keine Änderung der Lebensweise. Diese Haltung müssen wir richtig üben.
VinziRast zählt zu den ersten Obdachlosen-Einrichtungen, die Alkohol erlaubt haben – auch eine Form der Akzeptanz?
Corti: Das habe ich vom Pfarrer Pucher übernommen. Wir waren aber auch die erste Einrichtung, die Paaren erlaubt hat, in einem Bett zu schlafen. Wichtig ist nur, dass die Pärchen die VinziRast nicht mit einem Hotelzimmer verwechseln. Die sagen „Eh klar, wir wollen ja nur kuscheln“, was auch nachvollziehbar ist. Wo können sich denn die Menschen wirklich Körper an Körper spüren? Dass manchmal, nicht sehr oft, hoffe ich, trotzdem Grenzen überschritten werden, ist auch klar.
Was passiert dann?
Corti: Dann geh ich hin und sage „Hallo, so war das nicht gemeint“. Im Grunde sieht das jeder ein. Das ist dann auch wieder schön. Und stellt unmittelbar eine Beziehung her.
Als Sie fünf Jahre alt waren, musste Ihre Mutter mit Ihnen und den Geschwistern vor den Kommunisten aus dem heutigen Slowenien fliehen. Inwiefern hatte ihre eigene Fluchtgeschichte Einfluss auf Ihre Arbeit?
Corti: Ich glaube nicht, dass man als Kind den Verlust der Heimat mitbekommt. Für mich war die Nähe der vertrauten Menschen wichtig, die Mutter, die Geschwister; da fühlte ich mich geborgen. Dass ich eine Sensibilität für Not entwickelt habe, war vielleicht eher eine innere Not. All die Hindernisse im Lauf des Lebens und die Stolpersteine, die einem in den Weg gelegt werden. Oder die man sich selber sucht. Wie meistere ich sie, ohne dass ich zurückstecken muss oder bitter werde? Oder die anderen für schuldig erkläre.
Sie schildern in Ihrer Biografie oft die Geborgenheit; es werden sehr viele Häuser gebaut oder umgebaut in Ihrer Erzählung.
Corti: Das war eher eine Leidenschaft meines Mannes. Wäre er nicht Regisseur gewesen, wäre er Baumeister geworden. Immerzu gab es etwas zu sanieren oder zu renovieren bei uns. Von dieser harten Schule habe ich sehr profitiert.
Muss man sich Ihr Leben mit Ihrem Mann Axel Corti damals als besonders glamourös vorstellen?
Corti: Überhaupt nicht. Er war kein Partygeher, er wollte auch niemanden beim Dreh dabei haben, der nicht dazugehörte. Ich habe mich oft geärgert, weil er mir nicht einmal zu Karten für die Salzburger Festspiele verhalf. Er war viel zu leidenschaftlich mit seiner Arbeit beschäftigt. Den Schalldämpfer, seine wöchentliche Radiosendung, hat er, kann man fast sagen, nebenbei gemacht. Was nicht heißt, dass sie ihn nicht viel Kraft gekostet hat. Meist hat er ihn wenige Stunden vor der Aufnahme in wahnsinnigem Zeitdruck geschrieben. Der Alltag war mühsam.
Warum?
Corti: Ich war für alles zuständig, was nicht ganz unmittelbar mit seiner Arbeit zu tun hatte. Aber mein Mann hat immer genau gewusst, wie er jedes Detail will. Ich habe es dann durchgeführt.
Sind Sie durch VinziRast vom Privaten ins Öffentliche gekommen, vom Familienmensch zu der Frau, die große Projekte zusammenhält?
Corti: Das hat sich ungewollt so entwickelt, es hat mich auch erstaunt. Jedenfalls habe ich die Öffentlichkeit nicht gesucht. Im Gegenteil. Ich wollte ganz klein anfangen. Dabei ging es mir nur um die Qualität der Beziehung. Ich wollte einen Platz schaffen, wo ich für mich persönlich üben kann: Was heißt Respekt? Was heißt Anteilnahme? Was bedeutet für mich diese tiefe Überzeugung, dass wir alle Teil dieser Welt sind? Dass alles, was in der Welt passiert, eine Wirkung auf mich hat? Ich hab das in der Irak-Krise schmerzhaft gespürt. Dass Amerika, dass Präsident Bush einen Krieg beginnt und wir es nicht stoppen können. Ich habe gespürt, dass das ganz schlimme Folgen hat. Dieser Ohnmacht, an der Politik nichts ändern zu können, wollte ich etwas entgegensetzen. Ich wollte in meinem Alltag zum Ausdruck bringen, woran ich glaube, wovon ich überzeugt bin. Wie viele Verletzungen, wie viele Kränkungen, wie viel Leid tut der Mensch dem Menschen an?
Was verletzt Sie?
Corti: Wenn Menschen mir etwas unterstellen, was überhaupt nichts mit mir zu tun hat. Da fühle ich mich wehrlos.
Sie wollten etwas tun gegen die Ohnmacht und den Wahnsinn der Welt?
Corti: Ich bin überzeugt, dass jeder etwas tun kann. Dort anpacken, wo ich etwas bewirken kann. Viele kleine Zellen haben große Wirkung, wenn sie sich vernetzen. Gerade jetzt in der Asylfrage erleben wir das.
Wir müssen einfach etwas tun?
Corti: Jeder kann etwas tun. Es ist so einfach, anderen die Schuld zu geben. Ich kann es nicht mehr hören, wer alles wofür verantwortlich ist. Das beschädigt auch meine Würde. In der VinziRast begegnen wir unseren Gästen ganz selbstverständlich auf einer Ebene, wir nehmen jeden in seiner Individualität wahr und das macht die Freude aus. Natürlich ist es auch wichtig, dass sie ein Bett haben, frische Wäsche, ein wirklich gutes Abendessen und Frühstück. Und eine sehr entspannte Atmosphäre, in der Regel.
In der VinziRast kann jeder ehrenamtlich arbeiten?
Corti: Grundsätzlich ja. Eine gewisse Reife ist wohl Voraussetzung. Man sollte sich bewusst sein, dass es weder eine Veränderung des Lebenswandels bewirkt noch Dank geben muss. Gemeinschaft ist möglich, und sei es auch nur für kurze Zeit. Aber es ist weit davon entfernt, dass es immer gelingt. Ich werde oft gefragt, wie das funktioniert. Maschinen funktionieren. Hier sind Menschen. Aber ja: Jeder kann je nach Situation etwas tun.
Das Engagement zeigt sich dieser Tage besonders stark – was hat man davon, Flüchtlingen am Westbahnhof Wasser und Obst zu bringen oder Obdachlosen eine ruhige Nacht zu geben?
Corti: Das ist viel wert. Aber sicher ist es für einen selbst auch eine Genugtuung. Es befreit, das, was ich für notwendig halte, zu tun. Das Geben von Sachspenden ist dabei noch ganz etwas anderes als echte Anteilnahme. Sich mit der Not dieser Menschen zu konfrontieren, die Betroffenheit zuzulassen. Zu erleben, dass dies vielleicht meine eigene Heimatlosigkeit, meine Einsamkeit oder Orientierungslosigkeit berührt. Ich glaube, dass wir oft orientierungslos durch das Leben stolpern, es aber nicht wahrhaben wollen. Wir haben Haltegriffe und irgendwie geht’s dann schon. Die VinziRast ist da ein wunderbarer Lehrmeister.
Inwiefern?
Corti: Wir lernen unentwegt. Auch auszuhalten, dass wir oft nicht helfen können. Das ist sehr schwer. Aber macht uns nicht auch das menschlicher?