Ein ganzes Jahrhundert und seine Katastrophen im südrussischen Judentum als Handlungsraum und die weitere Verwandtschaft des Dichters als Protagonisten, abgehandelt auf knapp 200 Seiten – da braucht es ein enormes Vermögen zu Kondensierung, über das der Autor fraglos verfügt. Die erste Assoziation bei einem russischen Versroman gilt natürlich Puschkins "Eugen Onegin". Chersonskijs "Familienarchiv", ausgezeichnet mit dem Literaris-Preis der Bank Austria 2010, verbindet mit diesem die Sprache und die herausragende künstlerische Qualität.
Die reimlosen Verse gehen bisweilen bis ins kleinste Alltagsdetail, dann wieder weiten sie sich zu philosophischen Reflexionen von aphoristischer Kürze. "Jede Sünde trägt den Keim für eine erfolgreiche Karriere in sich." "Aus Angst vor Feinden hatte sie keine Freunde." "Was dem Verstand zugänglich ist, verlangt nach Erforschung. Das Unaussprechbare ist allgemein bekannt." Eine lakonische, tiefsinnige Familienautobiografie und gleichzeitig eine Parabel über das Leben und seine Paradoxien – und gegen das Verschwinden.