

Was kann der Bub dafür, dass die Oma eine Nazi ist
Georg Renöckl in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 19)
In ihrem Band "Auf offenem Meer" erzählt Bettina Balàka variantenreich von verschiedenen Formen des Gefangenseins
Eine große Liebe zeigt sich oft in kleinen Dingen" oder "Beim Küssen schließt man die Augen, damit man besser ins Herz sehen kann" oder "Liebe ist das Hoch, das alle Wolken vertreibt".
Was ist noch schlimmer, als eine Liste derartiger Sinnsprüche lesen zu müssen? Genau, sie zu schreiben. Strafverschärfung: die Sprüche in kleine Deckchen einzusticken. Die perfide Idee stammt von der Direktorin eines Frauengefängnisses, die ihre Häftlinge zu genau dieser Arbeit verdonnert – mit spitzen Nähnadeln, denn ein paar Blutstropfen verleihen der Stickerei zusätzlichen Reiz. Konsequenterweise wird die Sadistin erstochen, wenn auch mit einer Fleischgabel.
Diese grotesk-komische Rache am öden Kalenderspruch findet sich in Bettina Balàkas neuem Erzählband "Auf offenem Meer". Dass die 1966 geborene, auch als Lyrikerin und Dramatikerin bekannte Autorin eine außerordentliche Erzählerin ist, hat sie mit ihrem Roman "Eisflüstern" (2006) bewiesen, in dem ein k. u. k. Offizier aus russischer Gefangenschaft nach Wien zurückkehrt und weder die Stadt noch seine Familie so recht wiederzuerkennen vermag.
Auch in ihrem aktuellen Buch verarbeitet Balàka teilweise Historisches. Im 18. Jahrhundert spielt die Geschichte eines Schiffsjungen auf der Suche nach einem Vaterersatz, den er im Passagier John Harrison zu finden hofft. Diesem gelernten Tischler gelang es gegen den Widerstand berühmter Wissenschaftler wie Isaac Newton das sogenannte "Längenproblem" zu lösen und so die Orientierung auf offener See zu vereinfachen. Was die Geschichtswissenschaft nicht weiß: Ohne Balàkas Schiffsjungen wäre Harrison womöglich gescheitert, die Menschheit um eine Sternstunde ärmer.
Wie viele solcher Stunden die diversen Diktaturen des 20. Jahrhunderts verhindert haben, ist nicht abzuschätzen. Einer der bedeutendsten Biologen seiner Zeit war Nikolai Iwanowitsch Wawilow, der unter Stalin einen elenden Tod starb – in einem Gefängnis mit dem Spitznamen "Titanic". Sein Gefängnisdirektor schildert das Ende dieses ihm "äußert sympathischen" Häftlings, das ihm "wirklich sehr leid" tut. Der Beamte hat es sich angewöhnt, "Menschen so anzuschauen wie Schmetterlinge, die hinter einer Glasscheibe aufgespießt sind. Man betrachtete sie mit Interesse, manchmal sogar Bedauern, und dann ging man wieder fort, vergaß sie und kümmerte sich um sich selbst." Er ist kein Unmensch, sein Moralempfinden hat sich aber dem Schreckensregime angepasst.
Moral hängt oft von den äußeren Umständen ab. Ein Ich-Erzähler liebt seine Großmutter zwar trotz ihrer ungebrochenen Hitler-Verehrung, hält aber Distanz aus Rücksicht auf seine – gerade schwangere – Frau, die von Widerstandskämpfern abstammt. Nun vermacht die Großmutter den beiden ihre herrliche Villenetage mit schönem, großem Garten. Das Dumme daran: Es handelt sich um eine arisierte Wohnung. Soll das noch ungeborene Kind deswegen darauf verzichten müssen, im Grünen aufzuwachsen?
Bettina Balàka wechselt spielend leicht die Register. Sie regt zum Lachen an und sorgt dafür, dass dieses wenige Zeilen später einfriert, erzählt einmal voll groteskem Humor, dann wieder scheinbar naiv und lässt dabei Grausamkeit oder Verfolgungswahn durchschimmern.
Spannend ist der Bericht aus einem Kriegsschiff, dessen Kommandant, ein ehemaliger Computerspieleentwickler, unter Schießzwang einmal auf den falschen Knopf drückt; zunehmend verzweifelt die Erzählung einer Frau, die angesichts der Erziehungsmethoden ihrer Gastgeber in der idyllischen Provence froh sein muss, dass ihr eigener Sohn nicht auch gezüchtigt wird.
Die Weite des offenen Meeres wird oft mit Freiheit assoziiert. Balàka hingegen erzählt brillant von Gefangenen – auf hoher See oder hinter dicken Mauern, öfter aber in den eigenen Unzulänglichkeiten.