

Visionen eines nasebohrenden Gynäkologen
Erich Klein in FALTER 41/2012 vom 12.10.2012 (S. 25)
Mit "Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr" schreibt sich der Kroate Zoran Feric in die literarische Champions League
Zoran Feric (Jg. 1961)ist der kroatische Spezialist für Bizarres, Makabres und die Abgründe der menschlichen Seele, das ist seit seinen Romanen "Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzchen" (2003) und "Die Kinder von Patras" (2006) bekannt. Mit seinem 540-seitigen Opus magnum "Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr" schreibt er sich nun als Romancier in die Oberliga der europäischen Literatur.
Der Gynäkologe Tihomir Romar sitzt an besagtem 23. Mai des Jahres 2010 in einem Zagreber Café und bohrt in der Nase. Der Jungpensionist beobachtet die Vorboten des Frühlings, eine Passantin löst eine Vision aus, der er sogleich nachstürzt: "Sind Sie Senka? Ist das die Jacke, die ich vor dreißig Jahren, erfüllt von Liebe, auf Korfu erstanden habe?"
Die Aberration samt mutmaßlicher Zechprellerei löst ein Feuerwerk an Slapstick aus, und der Protagonist beschließt, die Schiffsreise seiner Zagreber Maturaklasse des Jahres 1961 von Opatija nach Zadar und retour zu wiederholen. Beim Betreten der "Tramuntana" wird das tatsächliche Alter der ehemaligen Kommilitonen sogleich klar: "Wir waren einmal dreißig. Jetzt waren wir noch zwölf." Das Narrenschiff des Lebens wird von Tragik überschattet, sobald "Klarschiff mit unserer Vergangenheit" gemacht werden soll.
Feric erzählt auf zwei Ebenen. Während Jugana, Ana, Marijan, Lidija, Toni und wie sie alle heißen unter der Sonne der nordöstlichen Adria mit Alkohol und ein bisschen Ecstasy in Erinnerungen, Intrigen und geplänkelten Streitereien schwelgen, wird Tihomirs ganzes Leben aufgerollt: Kinderspiele mit Freunden am Hof, eine irrtümlich zugestellte Todesnachricht, weil die Buben Türschilder vertauscht hatten.
Der jugendliche Besuch bei einer Prostituierten deutet an, dass sich der spätere Gynäkologe auf glitschige Abwege begeben wird. Tito-Jugoslawien ist stets präsent, aber nur als Hintergrund – selbst der Krieg der 1990er-Jahre, in dem Tiho Dienst in einem Lazarett versieht, taucht nur kurz auf.
Vielmehr wirkt es, als bestünde das wichtigste Motiv für die Gier von Feric' Figuren im unablässigen Versuch, das jugoslawische Schattenreich mit allen Mitteln zu verlassen. Das reicht vom ominösen Gangnachbarn Mrazivic bis zum heimlichen Gebrauch von importierten Beate-Uhse-Heften, derer sich Tiho und sein verwitweter Vater gleichermaßen zur fleischlichen Ertüchtigung bedienen. Das Mittel heißt: Machismo, Sex und Humor. Mit einem Wort: Balkanismus.
Über Tiho heißt es einmal, er habe es mit 100 Prostituierten getrieben. Als er sich in jugendlichem Liebeskummer ergeht, weist ihn der Vater rüde zurecht: "Was flennst du dieser Fut hinterher!" Das bezieht sich auf Senka, Tihos Mitschülerin und Freundin, die als Balletttänzerin das Land verlassen hat und aus Genf wieder zurückkehrte. Tiho liebt sie seit dem Studium ewig und unmöglich, tatsächlich hat er eine andere geheiratet und zwei Kinder.
War das Mittel, um durch diese Biografie zu kommen, bislang Sarkasmus, so stellt sich im Zuge der Kreuzfahrt heraus, dass auch Selbstironie längst nicht mehr ausreicht. Die Dreierbeziehung von Senka, Tiho und dessen Freund Roman gerät in der Rekapitulation zu einem Thriller mit Elementen des Pornos. Feric vergisst nicht das Gegenmodell von geradezu kosmischer Eintracht und Liebe: Die ganze Schulklasse schwimmt nächtens, beleuchtet von Schiffsscheinwerfern, im Meer und wird dabei von Tausenden von Fischen umgeben.
Der Showdown samt Unwetter, Stromausfall und Seenot erfolgt zwischen den Inseln Rab und Losinj. Senka spricht auf Tihos Handy einen Abschiedsbrief: "Je mehr Vergangenheit es im Leben gibt, etwas, was du nicht verändern kannst, desto klarer ist der Mensch irgendwie für sich selbst und andere. Es gibt weder Überraschungen noch Rätsel." Das Rätsel bleibt bestehen, als Senka, einer Göttin gleich, in goldenem Bikini und mit weißer Bluse das Schiff verlässt.
Zoran Feric erzählt aufwändig und schnell zugleich, die Dialoge sind voller Witz, die Exkurse über Spaghetti, Goli otok und die Autos im Zagreb der 1960er-Jahre meisterhaft. Ein Meister ist auch der Übersetzer Klaus Detlef Olof.