

Das Soziale und der Sex
Lisa Mayr in FALTER 25/2011 vom 24.06.2011 (S. 21)
Setzt eine Sexualität, in der sich das Individuum frei von gesellschaftlichen Zwängen entfalten kann, die revolutionäre Überwindung der bestehenden Verhältnisse voraus? Oder ist sie selbst Voraussetzung für neue Verhältnisse? Der Reader "Die Linke und der Sex" gibt keine Antwort auf diese Frage. Aber er macht deutlich, dass Geschlecht und Sexualität noch heute als Nebenwidersprüche des "Hauptwiderspruchs" zwischen Kapital und Arbeit gelten.
Der lesenswerte Band vereint historische Schriften und aktuelle Einlassungen und zeigt, wie sexuelle Befreiung stets in engem Zusammenhang mit sozialen Revolten stand. Der älteste Text im Buch – ein Essay der russischen Kommunistin Alexandra Kollontai – stammt von 1918, der jüngste aus dem Jahr 2007. Die 68er-Linke griff Kollontais Ideen von der "erotischen Freundschaft" auf – die Überwindung bürgerlicher Konstitutive und die Hinwendung zum Anti-Autoritarismus in bestimmten Bereichen konnte aber weder gesellschaftliche Gleichheit herstellen noch eine befriedigende Antwort auf die Geschlechterfrage geben.
"Die Linke und der Sex" macht deutlich, dass es in der Linken stets Versuche gegeben hat, marxistische, feministische und queere Ansätze zusammenzuführen – um eine grundsätzliche Kritik der Sexualität im Kapitalismus zu formulieren.
Linke heiraten anders
Matthias Dusini in FALTER 17/2011 vom 29.04.2011 (S. 40)
Gibt es Alternativen zur feudalen Zwangshochzeit mit Kutsche und Brautschleier? Ja, sagt der linksradikale Hochzeitsplaner Wilhelm Kollontai
Am 29. April heiraten in London Kate Middleton und Prinz William. Fernsehsender und die Videoplattform Youtube übertragen die Zeremonie live. ORF 2 berichtet am Freitag ab 9.05 Uhr von dem Eintreffen der Gäste in der Westminster Abbey, der Trauung des Paares, der Fahrt mit der Galakutsche durch London zum Buckingham Palace. Schließlich zeigen sich die Frischvermählten am Balkon des Palastes. Winkewinke.
Als Medienereignis hat die Trauung den Rang eines Fußball-WM-Finales. Nicht nur Monarchisten versammeln sich auch in Wien vor dem Fernsehgerät zur Trauschau (siehe auch Geschichte nebenan), obwohl der Spannungsbogen nicht größer sein wird als der eines Papstbegräbnisses. Heiraten, Schloss, Royals? Ein Linker, eine Linke wird da nicht gleich an das Ende der österreichischen Prinzessin Marie Antoinette auf dem Schafott denken, aber vielleicht an die Hochzeit der Eltern des Brautpaares am 29. Juli 1981.
Zwischen den Ausläufern des linksradikalen Terrorismus und der durch den neuen US-Präsidenten Ronald Reagan eingeleiteten neokonservativen Wende übte sich die linksalternative Woge damals in der Erprobung alternativer Liebesformen. Man fürchtete sich vor der Fadesse der "Beziehungskiste", debattierte die Vorzüge der "offenen Beziehung", zitierte Friedrich Engels Diktum von der Monogamie als "Konzentrierung größerer Reichtümer in einer Hand – und zwar der eines Mannes" und hielt die Einehe für die institutionalisierte Unterdrückung der Frau und die Hochzeit für eine Erfindung von Kaufhäusern.
Die Popularität der Royal Wedding steht auch für den Siegeszug des Spießertums als bewusstsseinsbildender Kraft. Mit augenzwinkerndem Wohlwollen wird ein zum Scheitern verurteiltes Ritual beklatscht; rund die Hälfte der Ehen wird geschieden, auch jene der Eltern von Prinz William ging in die Brüche. Patchworkfamilien haben längst die Festungen der Kleinfamilienwichtel erobert; dennoch wird geheiratet auf Teufel komm raus, vorzugsweise im Mai.
Gibt es denn überhaupt noch den Versuch, die Liebe jenseits des Kutschen- und Brautschleierterrors der heteronormativen Zwangsbeglückung zu zelebrieren? Aus den Trümmern der Reformbewegungen lassen sich einige alternative "Hochzeits"-Typen zusammenfügen, die der linksradikale Hochzeitsplaner Wilhelm Kollontai in seiner Agentur "Rote Liebe" kommentiert. An der Wand hängen Poster von Wilhelm Reich und Simone de Beauvoir. Das Bild von Bhagwan Shree Rajneesh ist mit einem Fragezeichen übermalt. "Eine Jungendsünde", sagt der studierte Soziologe und nimmt einen Schluck Tee.
Mehr Schein als Sein: Eine bunte Truppe hat sich an dem verregneten Sommertag vor dem Standesamt am Brigittenauer Platz
versammelt. Die Braut stülpt ihr Kleid über die tätowierten Oberarme, der Bräutigam ist in einem viel zu großen, beigen Anzug mit Sneakers erschienen. Rita und Pjotr unterhalten sich auf Englisch und kippen einen Whiskey, den Freunde in Plastikbechern reichen. Nur die Eltern der Braut wollen den Tag würdig begehen. Mutti trägt Hut, Vati fährt Limousine. Wie peinlich.
Die Studentin Rita (29), die eine Dissertation über die Zukunftsperspektiven queer/feministischer Politik unter neoliberalen Bedingungen schreibt, kennt Pjotr (23) aus der Wohngemeinschaft, in der der ukrainische Student ein Gastsemester lang weilt. Ihre Ehevorbereitung bestand darin, mögliche Fragen der Fremdenpolizei vorweg zu nehmen. Wie haben Sie sich kennengelernt? Wann hatten Sie zum ersten Mal Sex? Die Vortäuschung einer Ehe ist strafbar.
Rita hasst die Festung Europa, weiß von der Ausbeutung der Arbeitskräfte aus Ländern jenseits der Schengengrenze. Auf die Gewerkschaften der "Mehrheitsösterreicher" ist kein Verlass; sie nennt sie "nationalistische Arbeiter/innenorganisationen". Mit einem Trauschein hat ihr Mitbewohner eine Chance, in Österreich zu bleiben.
Daher steht sie nun mit Pjotr vor dem Standesbeamten. Und weil der Westen immer auf den Osten heruntergeblickt hat, und die Mutter nervös in ihrer Handtasche herumkramt, wenn der Bursche – "der Russ'" – mit seinem rollenden Akzent zu sprechen beginnt. Für Rita ist der Tag, an dem Pjotr die Niederlassungsbewilligung bekommt, ein Freudentag, eine Wiedergutmachung für die Ausbeutung von ihnen durch uns.
Wilhelm Kollontai: "Warum kann man einer Scheinehe nicht auch etwas Lustvolles abgewinnen. Leistet euch eine Zigeunerband, tanzt bis in den Morgen! Vor allem: Gute Taten schließen Sex nicht aus."
Die ohne Einschaltquote: Mit unliebsamer Autorität brechen die Normen der Generationenfolge über heiratswillige Paare herein. Wenn der Bräutigam beim Brautvater um die Hand der Tochter anhält, werden dabei ökonomische Abmachungen impliziert. Legt der Vater sein Erbe in genetisch erfolgversprechende Hände? Umgekehrt vergewissert sich der Bräutigam beim Rundgang durch das Reihenhaus, dass der Alte die geplante Hochzeit bezahlen kann.
Für linke Romantiker ist die Hochzeit keine Finanzoperation. Sie haben gegen die elterliche Autorität rebelliert, ließen mit ihrer Leidenschaft den moralischen Individualismus hochleben. Die Aussicht auf eine Eigentumswohnung ist ihnen gleichgültig. Reich, arm; schwarz, weiß; Frau, Mann: Hauptsache, wir lieben uns!
Jakob und Lisa sind seit sieben Jahren zusammen, er arbeitet bei einer Umweltschutzorganisation, sie ist Architektin. "Wir heiraten sicher nie", sagten sie immer. Zur Überraschung aller kommen die beiden dann von einer USA-Reise mit einem Trauring zurück, dem Plastikring aus einem Automaten. "Wir waren in Las Vegas und wollten etwas Schräges machen", erklärt Lisa kichernd ihre Entscheidung. Statt einer Milliarde Menschen wie bei K & W hat bei J & L niemand zugeschaut.
Der Tipp Kollontais für unsichtbare Hochzeiten: "Ladet Freunde und Verwandte zu einem schönen Sommerfest ein. Verkündet dort, dass ihr gestern geheiratet habt, und ignoriert, dass euch alle etwas peinlich berührt anschauen, weil keiner ein Geschenk dabei hat und alle gern ein glückliches Paar mit Schleier und Frack gesehen hätten. Verteilt T-Shirts mit der Aufschrift: Make love, not money!'"
Kollontai (62) selbst ist Anhänger der Polyamory-Bewegung. Er lehnt die "serielle Monogamie" strikt ab. "Es sollen so viele Lebensformen wie möglich existieren." Er lebt mit seiner Partnerin Gabi in einem Haus am Stadtrand. Klaus, Ulli und die Frau-zu-Mann-Trans*Person Stéphanie wohnen auch da.
"Wir lieben mehr als einen Menschen", sagt Willi. Sex kann, muss aber nicht sein. Offenheit, Ehrlichkeit und Kommunikation seien Pfeiler des Polyamorismus. Und die Hochzeit? "Einen ebenbürtigen Ersatz für eine Feier, bei der die Elterm genauso verletzt wären, wenn sie nicht eingeladen würden, gibt es nicht." Bei ihm gibt es
öfter Hochzeitstorte – mit Willi, Gabi,
Klausi, Ulli und Steffi drauf.
Der Fünf-Jahres-Plan: Endlich haben Patrick und Claudia, beide sind Ende 30, eine Tochter bekommen. Aus rechtlichen Gründen wollen sie nun heiraten, da mit der Eheschließung das Sorgerecht besser geregelt ist und es steuerliche Begünstigungen gibt. Wenn schon, denn schon, denken sich der Informatiker und die Lehrerin und wollen in einer kleinen Landkapelle heiraten. Mit Pfarrer. Glaubt doch eh keiner. Oder vielleicht auch barfuß auf einer Wiese. Und warum nicht auf einem Schloss? Aber sie fürchten sich schon vor unnötigen Geschenken und bösen Überraschungen.
Falter: Herr Kollontai, Heiraten galt einmal als spießig. Was macht man heute, um anders zu sein?
Wilhelm Kollontai: Niemand sagt heute: Ich feiere eine 08/15-Hochzeit. Alles muss speziell und individuell sein, aber ohne dass man die Kontrolle darüber verliert. Das Anders Heiraten ist heute die Norm, weil keiner mehr ein Spießer sein will. Das ist die Marktnische für die Agentur "Rote Liebe": Heiraten ja, aber aus Protest.
Was würden Sie dann dem Paar raten, das subversiv die feudale Herrschaftssymbolik aushöhlen möchte, aber Angst vor bösen Überraschungen hat?
Kollontai: Die beiden haben ein Recht auf Autonomie, und die kann auf einer Hochzeit empfindlich eingeschränkt werden. Trauzeugen machen in ihren Reden schmutzige Anspielungen. Auf Wegsperren kann es dem Bräutigam passieren, dass er misshandelt wird. In Regionen, die dem Aberglauben verhaftet geblieben sind, wird die Braut entführt und betrunken gemacht. Tischordnungen schreiben ein paarnormatives Verhalten fest und diskriminieren Singles, die ihrerseits als Material für weitere, heteronormative Verkuppelungen missbraucht werden. Wenn Sie eine Hochzeit steuern wollen wie die Produktivität einer Traktorenfabrik, welcher Hochzeitsplaner könnte Ihnen da wohl aus der Patsche helfen?
Danke für Ihre Ratschläge, die wie Ihre Person ein Märchen sind. So wie die ganze Hochzeit von Kate und William.
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