

Wenn nicht Weltrevolution, dann wenigstens Sozialarbeit
Raimund Löw in FALTER 32/2020 vom 07.08.2020 (S. 20)
Wer geglaubt hat, dass jeder Winkel der österreichischen Arbeiterbewegung längst ausgeleuchtet ist, wird durch diese kluge Biografie der Fürsorgerin und Publizistin Elisabeth Schilder eines Besseren belehrt. Die Autoren zeichnen ein lebendiges Bild einer starker Persönlichkeit der österreichischen Linken der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, die selbst unter Historikern kaum bekannt ist.
Schilder hat während Jahrzehnten zahlreiche Analysen zur Diskriminierung von Frauen verfasst. In den 1970er-Jahren hat sie die großen Strafrechtsreform unter Christian Broda begleitet. Als junge Juristin hat Elisabeth Schilder die Chancen und die Grenzen für die Rechte der Frauen in der österreichischen Revolution (Otto Bauer) nach dem Ersten Weltkrieg erlebt. Sie war in der Zwischenkriegszeit in den Frauenkreisen der sozialdemokratischen Linken aktiv. Im Ständestaat wurde Elisabeth Schilder führende Funktionärin der Revolutionären Sozialisten, der illegalen Nachfolgeorganisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Die Nazizeit hat die aus einer assimilierten jüdischen Familie stammende Schilder nach der Flucht aus Österreich nur durch Zufall überlebt. Im Anhaltelager Gurs in Südfrankreich gab es keine für den Transport nach Auschwitz designierten Frauenbaracken. Ihr Lebensgefährte wurde deportiert und in Auschwitz ermordet.
In Frankreich hat sich Elisabeth Schilder nach 1945 als Fürsorgerin um verwahrloste Jugendliche gekümmert, die die KZ der Nazis durchgemacht haben. Einen Burschen hat sie adoptiert. Wenn nicht Weltrevolution, dann wenigstens Sozialarbeit, war von nun an ihre Devise. Die Erfahrung mit schwierigen jugendlichen KZ-Überlebenden, die sich mit allen verfügbaren Mitteln hatten durchsetzen müssen, um durchzukommen, prägte ihren Zugang zur Jugendfürsorge. Zurück in Wien gehörte Elisabeth Schilder zu den von der Psychoanalyse inspirierten Fürsorgerinnen, die gegen Anstaltsmauern und vergitterte Fenster ankämpften. „Absolute Milde und Güte; nicht Anwalt der Gesellschaft, sondern Anwalt der Verwahrlosten“ war nach den Worten des Psychoanalytikers August Aichhorn die Linie der Dissidenten. Gegen die autoritären Brutalomethoden der Wiener Fürsorge konnten sie sich lange nicht durchsetzen.
Erst dank der Unterstützung durch den sozialdemokratischen Justizminister Christian Broda, den Elisabeth Schilder aus der gemeinsamen Zeit in linken Untergrundorganisationen der 1930er-Jahre kannte, konnte die Juristin ihr Know-how und ihre Überzeugung voll einbringen: Elisabeth Schilder war als führende Triebkraft an der Gründung der österreichischen Bewährungshilfe beteiligt, die sie mehr als 15 Jahre leitete. Und sie wurde zum „linken Gewissen“ Brodas, des großen Sozialreformers unter Bruno Kreisky.
Die Historikerin Gabriella Hauch und der Sozialpsychologe Karl Fallend haben einfühlsam und kenntnisreich ein Buch geschrieben, das spannend zu lesen ist und unseren Blick auf die österreichische Zeitgeschichte erweitert. Sie widmen ihr eine biografische Skizze, die Schilders Leben und Wirken im Kontext ihrer Zeit und ihrer Weggefährten auffächert. Texte der Vielschreiberin aus der Arbeiter-Zeitung, der Frau und anderen sozialdemokratischen Publikationen geben Einblick in ein vielseitiges publizistisches Schaffen. Der Titel des Buches, „Aus der Sintflut einige Tauben“, ist ein Zitat der porträtierten Elisabeth Schilder. Mit „Tauben“ sind jene Aktivistinnen und Aktivisten gemeint, die wie sie und Christian Broda der Sintflut von Faschismus, Auschwitz und Krieg entkommen waren.