

Klimawandel für Wolfgang Bauer
Hermann Götz in FALTER 35/2015 vom 28.08.2015 (S. 52)
Vor zehn Jahren starb der Dramatiker Wolfgang Bauer. Wird der frühere Grazer Literaturpopstar mit seinem aufgetauchten Frühwerk „Der Rüssel“ wieder für die Bühne entdeckt?
Wenn du heute jemandem eine Wolfgang-Bauer-Lesung anbietest, funktioniert das gerade noch in einer Stadt wie Salzburg, vorausgesetzt, du kannst einen prominenten Interpreten aufbieten. Weiter weg wird es schwieriger: In München ist der Grazer Dichter von einem Veranstalter schon einmal mit dem Bayern Wolfgang Maria Bauer verwechselt worden.“
Paul Pechmann ist Lektor beim Ritter Verlag, wo zum Todestag des Autors ein von Bauer-Spezialist Thomas Antonic herausgegebener Wolfgang-Bauer-Band mit szenischen Texten aus dem Nachlass erscheint. Und er ist bekennender Bauer-Fan. Dennoch macht er sich über die Popularität des einstigen Literaturpopstars keine Illusionen. „Die immer wieder einmal zitierte Meinung, dass Bauer in Graz verkannt sei, international hingegen eine Berühmtheit, ist eine Mär. Für eine derartige Behauptung gibt es keine Belege.“ In Wahrheit stimmt wohl schon länger das Gegenteil.
Bereits in den 1970er-Jahren, als Bauers Stücke international Furore machten, soll „der Wolfi“ auf eine Art weltberühmt in Graz gewesen sein, die eher einer Szenefigur entsprach. Natürlich förderte der Umstand, dass Stücke wie „Magic Afternoon“ oder „Gespenster“ ebenjener Szene, dem Milieu der intellektuell aufgerüsteten Kleinstadt-Bohemiens, ein Denkmal setzten, die Vermischung dieses Ruhms mit der Rezeption seines Werkes.
Als wesentlich haltbarer als die Erfolge am Theaterparkett haben sich in der Murstadt jedenfalls die Erinnerungen an Wein- und Likörstube erwiesen, in denen der Wolfi seine privaten Auftritte hatte. Für Germanisten vom Schlage Pechmanns sind ohnehin Bauers spätere Werke wie „Café Tamagotchi“ die spannenderen, in denen sich der Dramatiker hermetisch und experimentell präsentiert. „Der Umstand, dass sich dieser Autor immer sehr für avancierte Theorien und die Erweiterung der Dramenform interessiert hat, wird durch die popkulturelle Attitüde in der Rezeption verdeckt. Der einst breite Erfolg Bauers Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre beruhte auf einem verkürzten Verständnis seiner Literatur“, so Pechmann. „Quantitativ verläuft die Bauer-Rezeption in dem für avantgardistische, formspielerische Literatur üblichen Rahmen.“
Der Popstar Bauer, ein Missverständnis? Abseits der steirischen Landeshauptstadt dürfte das die Diagnose sein. Doch sie könnte sich ändern. Und das liegt – wie so oft – an einem glücklichen Zufall. Denn just im Vorfeld von Bauers zehntem Todestag ist ein Theatertext aufgetaucht, der nicht nur im Werk des Autors eine besondere Stellung einnimmt. „Der Rüssel“, Bauers 1962 verfasstes, erstes abendfüllendes Drama, ergänzt die deutschsprachige Literatur- und Theatergeschichte um einen nicht unwesentlichen Puzzlestein.
Die Umstände, unter denen „Der Rüssel“ verschwunden und wieder aufgetaucht ist, eignen sich selbst zur Urban Legend und passen damit bestens ins Bild (siehe Falter 17/15). Dass ein Stück aus dieser Zeit existieren sollte, war bekannt, bei der Suche nach dem verschollenen Text plagten sich Verlag und Forscher allerdings mit Erinnerungslücken des Autors und seines früheren Umfeldes. Mehrfach dürfte man falschen Fährten gefolgt sein. Unter anderem wollte Bauer sein Stück dem Komponisten Diether de la Motte für eine mögliche Vertonung überantwortet haben, aufgetaucht ist es schließlich im Nachlass eines anderen Tonsetzers: des Leibnitzers Franz Koringer.
„Der Rüssel“ erschien dann erstmals im März 2015 als Faksimile des Typoskripts in der Literaturzeitschrift manuskripte, begleitet von einem literaturwissenschaftlichen Essay von Thomas Antonic, einem Epilog Elfriede Jelineks und einer Covergestaltung von Sohn Jack Bauer. Wie Antonic penibel darlegt, stand Wolfgang Bauers Schreiben zu Beginn seiner Karriere unter dem bestimmenden Einfluss des absurden Theaters. Die Lektüre des „Rüssel“ lässt daran keine Zweifel. Damit rundet das Stück jedoch nicht nur das Bild von der Entwicklung des Autors Wolfgang Bauer ab, es ist auch ein rares Dokument absurden Theaters in deutscher Sprache – und wohl das einzige aus der Feder eines österreichischen Autors.
„Vielleicht ist ,Der Rüssel‘ geeignet, Bauer für die Bühne wieder zu entdecken“, schreibt manuskripte-Herausgeber Alfred Kolleritsch in seiner Marginalie. „Wir hoffen, dass die Dramaturgen erwachen“, fügt er hinzu. Natürlich hat die Relevanz, die dem Stück im literaturhistorischen Kontext zukommt, wenig über seine Attraktivität für die Spielpläne der großen Häuser zu sagen. Das Theater des Absurden ist Geschichte, seine Rezeption auf den Bühnen in den letzten Jahren überschaubar. Doch auch hier beweist der Zufall, der zur Entdeckung des „Rüssel“ geführt hatte, gutes Timing. Denn ebenjene Theaterwelt, in der eine Handvoll Festivals und großer Bühnen den Ton und auch die Tonart angeben, bietet Indizien, dass Beckett, Ionesco und Co eine Renaissance erleben. 2014 machten das Deutsche Theater Berlin und die Ruhrfestspiele Recklinghausen mit Samuel Becketts Klassiker „Warten auf Godot“ Furore, die noch vom 2013 verstorbenen Regiestar Dimiter Gotscheff geplante Inszenierung (Regie führte schließlich Ivan Panteleev) wurde zum Theatertreffen 2015 ans Hamburger Thalia Theater und ans Residenztheater München eingeladen.
2015 legten die Ruhrfestspiele Eugène Ionescos bekanntestes Drama „Die Nashörner“ nach. Unter anderem mit Samuel Finzi und Wolfram Koch, die schon für ihre Leistung bei Beckett mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring 2014 geehrt wurden, als Koproduzenten fungierten diesmal das Théâtre National du Luxembourg und das Staatstheater Mainz.
Es waren dies beileibe nicht die einzigen Inszenierungen der beiden modernen Klassiker in letzter Zeit – aber die prominentesten. Daraus einen Trend abzulesen, mag überzogen erscheinen, doch die Stückwahl, die sich mit zwei Erfolgsproduktionen von Hamburg über Berlin und die Ruhrtriennale bis München behauptet, ist neben dem Triumph zweier Schauspieler auch Seismograph für eine Gestimmtheit, die in die Zeit passt. Der aus den 1950er-Jahren geborene Versuch, der Sinnlosigkeit und Absurdität des Daseins im Schlagschatten zweier Weltkriege Form zu geben, passt in eine Zeit, die ihre Krise als chronisch erlebt. Nur im thematischen Bereich lassen die existenzialistisch verbrämten Problemzonen, die das absurde Theater dominieren, die Nachgeborenen kalt. „Der Zuschauer im Parkett bleibt das aufgeklärte Subjekt, das das ganze Spektakel distanziert betrachtet“, heißt es in einer Kritik zur Inszenierung der „Nashörner“. Und genau hier tritt der dritte Zufall auf den Plan, der für einen Erfolg des „Rüssel“ spricht. Wolfgang Bauers Stück ist thematisch äußerst aktuell – heute sogar noch mehr als zur Zeit seiner Entstehung.
Unter dem Eindruck der erstmals in den 1960er-Jahren breiter diskutierten globalen Erwärmung fabuliert der junge Dramatiker von einer klimatischen Metamorphose, die aus den Alpen eine tropische Welt zaubert. „Der Rüssel“ ist irrwitziges Klimawandeltheater, ein erschreckend zeitgemäßes Gleichnis zum Zustand der Welt. Denn mit dem Klimawandel kippt im gezeigten Bergdorf auch das gesellschaftliche Gefüge, für das sich in seiner Primitivität von Anfang an der Ausdruck „Bananenrepublik“ aufdrängt. Schlimmer noch: Die holzschnittartige Heimatfilmhandlung verkehrt das koloniale Weltbild ins Gegenteil, hier sind die Herren der Jägerhütte Ureinwohner – und der Dorfpfarrer initiiert Lynchjustiz, indem er mit dem Jagdgewehr wider die Überfremdung des christlichen Abendlandes auftritt. Auch da greift Bauers Text jedem Regietheater-Zugriff vor und errichtete ein Bezugssystem, das an Brisanz schwer zu überbieten ist.
In einer durchaus gewitzten poetischen Parallelaktion beschreibt Wolfgang Bauer den Einbruch der Tropen im Alpenland – und jenen des absurden Theaters im alpinen Volksstück. Großwildjagd trifft Voodoo trifft Freischütz-Romantik. Das Gipfelkreuz mutiert erst zur Palme, dann zu einem Galgen. Der Alpenwestern war noch nicht erfunden, als Wolfgang Bauer das Wort vom wilden Westen neu zu konnotieren suchte. Es ist zweifellos ein wirres Bildpanorama, das da aufgebaut wird, doch der Autor zwängt die Flut der Ideen in eine strenge Form. Die absurde Handlung folgt einer ausgefeilten Dramaturgie, die Sprache mutet geradezu hochtrabend an – ein Bühnen, kein Bauern- oder gar Bauer-Deutsch.
Zum zehnten Todestag Wolfgang Bauers präsentiert der Ritter-Verlag das Stück „Der Rüssel“ im oben genannten Sammelband. Laut dem Sessler Verlag, der die Aufführungsrechte vertritt, ist das Stück „optiert“. Mehr will man nicht verraten. Thomas Antonic spricht allerdings schon in seinem manuskripte-Essay zum „Rüssel“ von einer „zu erwartenden“ Aufführung auf einer großen Bühne. Gemunkelt wird, dass es sich dabei um das Burgtheater handelt.