

Eine Einladung, sich glücklich zu verlieren
Sebastian Fasthuber in FALTER 15/2013 vom 12.04.2013 (S. 26)
Ich werde sagen: ,Hi
', dachte Moritz." Mit einem Ausschnitt aus ihrem neuen Roman gewann die in Deutschland lebende Russin Olga Martynova im Vorjahr den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nun liegt das fertige Buch vor. Und siehe da: Der ausgezeichnete Text über den Jugendlichen Moritz, der sich zum Autor berufen fühlt, war nur ein ganz kleines Puzzlestück im Zusammenhang eines großen, in seiner Fülle und Dichte an Motiven, Figuren und Handlungssträngen kaum noch zu überblickenden Romans. Das Personal von "Mörikes Schlüsselbein" besteht aus Dichtern, Übersetzern, Tänzern und Literaturprofessoren, unterwegs zwischen Frankfurt am Main, Berlin, Petersburg und den USA, zwischen Lesereisen und Konferenzen, zwischen ihren Partnern, Liebhabern und Patchworkfamilien.
Da ist etwa das Pärchen Andreas und Marina, das man schon aus dem Roman "Sogar Papageien überleben uns" (2010) kennt und das nach 20 Jahren wieder zusammengefunden hat. Dazwischen hat er mit einer anderen Frau zwei Kinder bekommen, besagten Moritz und Franziska, die sich zur Künstlerin entwickeln wird.
Jeder Versuch zu rekapitulieren, was mit den beiden und den Kindern in der Folge passiert, muss an dieser Stelle aber sofort wieder abgebrochen werden. "Mörikes Schlüsselbein" ist das Musterbeispiel eines nicht nacherzählbaren Romans. Es geht darin gewissermaßen um alles: um die Literatur, das Leben, Familien und Beziehungen, um Übersetzungsfehler zwischen Kulturen und unsichere Identitäten. Dass Martynova die vielen kleinen Geschichten und Episoden nicht zu einem großen Ganzen verwoben hat, ist das ästhetische Programm eines Buches, in dem man als Leser glücklich verlorengehen kann – ähnlich wie John, der zuerst als Übersetzer des russischen Dichters Fjodor eingeführt und später als Agent mit unklarem Auftrag herumirren wird.
Martynovas ebenso elegante wie originelle Sprache beeindruckt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Man kann sich ihrer Poesie dennoch vollkommen überlassen.
Lesung: 22.4., 19 Uhr in der Alten Schmiede