

Umsturz und Ausdruckstanz
Sebastian Fasthuber in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 22)
Wien 2000 und 2015: In "Die Regeln des Tanzes" geht es Thomas Stangl um das Bemühen, Bewegungsfreiheit zu gewinnen
Die Romane von Thomas Stangl sind Sprachkunstwerke. Sie vermitteln, wie genau man hinsehen kann und in wie viele Bilder sich noch die kleinste Handlung auflösen lässt. Seine ersten drei Romane haben den Wiener als Liebling der Kritik etabliert und ihm einige Preise eingebracht. Das sogenannte breitere Publikum hat Stangl mit seinen so poetischen wie streckenweise hermetischen Texten allerdings noch nicht erreicht.
Mit seinem jüngsten Roman "Die Regeln des Tanzes" könnte sich das ändern. Könnte, denn an seinem Stil hat der Autor nichts geändert; dafür verfügt das Buch inhaltlich über das, was pfiffig formulierende Kritiker gern "Sprengkraft" nennen: Teile des Romans sind Anfang 2000 auf den Straßen von Wien angesiedelt und erinnern an die Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung (der Autor war dabei).
Eine der Demonstrantinnen ist eine Studentin, die sich mit ihrer Schwester eine Wohnung teilt, aber nicht viel mehr. Wie man später erfährt – Stangl ist kein Autor, der dem Leser Informationen aufdrängen würde, er hält sie aber auch nicht künstlich zurück –, hat der Vater der Mädchen Selbstmord begangen. Seine Töchter suchen in der Folge nach Möglichkeiten abseits der vorgezeichneten bürgerlichen Lebenswege, kämpfen um eine Erweiterung ihrer Aktionsradien.
Während Andrea schon zeitig aus dem Haus läuft, um sich den Protesten gegen Schwarz-Blau anzuschließen, sich in der Menge verliert und gleichzeitig selbst intensiv spürt, legt sich Mona noch einmal nieder und schläft bis in den Nachmittag hinein. Eines Tages verschwindet sie. Schon früher war sie öfter für einige Zeit abgetaucht, diesmal jedoch kehrt sie nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurück.
Den Erzählungen von Andrea und Mona Stanek fügt Stangl noch eine dritte Ebene und Hauptfigur hinzu. 15 Jahre später, wir befinden uns in der nahen Zukunft des Jahres 2015, streift ein Mann namens Dr. Walter Steiner durch Wien. Er ist über 60, pensioniert und scheint sich langsam in Luft aufzulösen. Seine Wohnung wird von seinen Augen langsam immer leerer: metaphorisch, weil die Gegenstände darin keine Bedeutung mehr haben, aber auch ganz real, weil seine Lebensgefährtin auszieht.
Wo die Schwestern am Anfang ihres Weges standen und nach ihrem persönlichen Ausdruck suchten, kämpft hier jemand damit, dass ihm alles, was er gemacht und an Besitztümern angesammelt hat, gleichgültig geworden ist. Auch Steiner reagiert darauf mit einer Flucht aus den als beengend empfundenen vier Wänden. Bei seinen ziellosen Streifzügen durch Wien findet er eines Tages alte Filmdosen – mit Fotos, die die beiden Schwestern zeigen, ihre Wohnung und einen Grabstein.
Steiner beginnt Nachforschungen anzustellen und findet heraus, dass Andrea Stanek noch lebt und als Tänzerin auftritt. Sie übt sich in japanischem Ausdruckstanz ("Ankoku Butoh, das heißt Tanz der Finsternis"). Der Roman kulminiert in einem gemeinsamen Auftritt mit dem älteren Herren, der vom Aussehen her an einer Stelle mit Cary Grant verglichen wird.
Im Bühnenlicht beginnt er zu grübeln. Und schon ist sein Auftritt wieder zu Ende – "er hat es verabsäumt sich zu bewegen". Auch Andrea hat damals im Frühjahr 2000 nicht gehandelt. Einmal schien der Sturm aufs Kanzleramt unmittelbar bevorzustehen: "Einen Moment lang glaubte sie an die Möglichkeit des Umsturzes und der vollkommenen Freiheit: Was für eine Schande, denkt sie, in einer Wohnung zu wohnen, ein paar Zimmern, zwei oder fünf, egal: immer die gleichen Wege zu gehen. Was für eine Schande, durch Fenster auf die Straße, in die Welt zu schauen, statt die ganze Welt in Besitz zu nehmen. Statt sich die Welt zu nehmen."
Dann zerstreuen sich die Demonstrationsteilnehmer wieder. Die Regierung redet in der Folge den Widerstand klein, der Protest verebbt.
Stangls Roman als eine Erinnerung an das Jahr 2000 zu lesen, wäre eine stark verkürzte Rezeption. Es ist ein außergewöhnlich dichtes Buch über Identität, Abwesenheit und Erinnerung, in dem sich immer neue Details auftun; gewiss keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.