

"Sehr geehrter Tiefkühlerbsen-Produzent"
Klaus Nüchtern in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 26)
In ihren "Stories" erweist sich Lydia Davis einmal mehr als Meisterin nachhaltiger und saukomischer Verstörung
Es gibt eigentlich keine Anlässe, die zu banal wären, als dass Lydia Davis daraus nicht Literatur machen würde: Kreuzworträtsel lösende Sitznachbarinnen im Flugzeug sind ihr ebenso recht wie Hundehaare in den Kleidern oder die Kondenswassertröpfchen auf einem Teller, der über dem Topf mit der Polenta liegt.
Tiere sind ein bevorzugtes Thema, Fischverzehr ist eine interessante Subvariante. Das keine vier Zeilen umfassende "Alte Frau, alter Fisch" handelt davon, wie die eine den anderen verdaut; "Alleine Fisch essen" bringt es immerhin auf fast sieben Seiten und geht die Sache sehr systematisch von ihrer – wie soll man sagen? – sozialpsychoökologischen Seite an.
Nachhaltige und ethische Ernährung zählt bekanntlich zu den Obsessionen der gebildeten Mittelschicht. Die Ich-Erzählerin besagter Geschichte isst auswärts "für gewöhnlich Fisch", hat aber immer auch einen kleinen Folder der Audubon Society einstecken, der ihr verrät, welchen man überhaupt essen soll.
Bei Lachs ist es einfach – kein Zuchtlachs, Wildlachs nur aus Alaska –, bei anderen Arten wird's komplizierter: "Der Heilbutt aus dem Pazifik ist gut, der aus dem Atlantik nicht. Obwohl ich an der Atlantikküste lebe, beziehungsweise in Küstennähe, fragte ich (
), woher der Heilbutt komme, so als hätte ich vergessen, wie groß die Entfernung zum Pazifik war, oder als würde der Heilbutt bloß aus gesundheitlichen Gründen oder wegen guter Fangpraktiken den ganzen Weg von der pazifischen Küste zum Atlantik transportiert."
Während das Servierpersonal sichtlich Dringlicheres zu tun hat, als sich um Geburtsurkunden für Heilbuttfilets zu kümmern, entscheidet sich die Erzählerin für Jakobsmuscheln, die laut Audubon Society freilich "mit Vorsicht" zu genießen seien, wobei sich natürlich die Frage stellt, "was Vorsicht im Kontext eines Restaurants bedeuten sollte (
). Sicherlich würden weder die Kellnerin noch der Küchenchef, wenn Jakobsmuscheln auf der Speisekarte standen, erklären, diese seien vom Aussterben bedroht oder nicht in Ordnung, und mir abraten, welche zu essen."
In ihren "Stories" legt die 67-jährige Lydia Davis, die lange Zeit als "writer's writer" galt, bis sie im Vorjahr den Man Booker International Prize gewann, eine sanfte, aber unbeugsame Systematik an den Tag. Das kann verstörend und berührend sein wie die mit Abstand längste Geschichte "Die Seehunde", in der die Ich-Erzählerin zu ergründen sucht, wie sie eigentlich zu ihrer früh verstorbenen Schwester stand; das kann aber auch sehr komisch sein wie im Falle eines Briefes, der mit der vielversprechenden Anrede "Sehr geehrter Tiefkühlerbsen-Produzent" beginnt.
Anlass dieser schriftlichen Intervention ist freilich nicht die Kritik am Inhalt, sondern überraschenderweise der Umstand, "dass die auf Ihrer Packung Tiefkühlerbsen abgebildeten Erbsen farblich höchst unattraktiv sind. (
) Mit ihrem stumpfen Gelb-Grün haben die Erbsen eher die Farbe von Erbsensuppe als die von frischen Erbsen und entsprechen farblich so gar nicht den Erbsen ihrer Packung, deren Färbung von einem frischen Dunkelgrün ist."
Im November 2011 hatte Lydia Davis eine Lesung in Wien, und vermutlich war es "in jenem Herbst", dass ihr "ein sehr freundlicher Mann" eine Schachtel mit Pralinen geschenkt hat; und zwar nicht irgendeine, sondern ein zweilagiges Liliputkonfektkistchen von Altmann & Kühne, denn "der Deckel war beinahe so schön wie die Pralinen. Er war grün und dicht an dicht mit mittelalterlichen Figuren und Gebäuden in Orange, Gelb, Schwarz, Weiß und Gold geschmückt. Auf kleinen weißen Fähnchen standen offensichtlich in schwarzen Buchstaben und deutscher Frakturschrift Sprichwörter – kurze gereimte Spruchweisheiten."
Man sieht: Lydia Davis ist genau bis zur Pedanterie, die ihr zart zwangsneurotisches Potenzial dort so richtig entfaltet, wo es um die rechte Weise des Verzehrs der 32 Confiseriekunstkleinode geht. Hätte der sehr freundliche Mann damals geahnt, welchen Stress er Lydia Davis verursacht, er hätte am Graben kehrtgemacht, um ihr 240
Meter weiter im Manner Shop am Stephansplatz einen Sack Schnittenbruch zu besorgen.