

Häusliche Gewalt und Genrekino: Zur Neuentdeckung des "Domestic Thriller"
Barbara Schweizerhof in FALTER 51-52/2022 vom 21.12.2022 (S. 47)
Das Wort Gaslighting hat eine der seltsamsten Karrieren der Film-und Sprachgeschichte hinter sich. Abgeleitet vom Titel des berühmten George-Cukor-Thrillers von 1944 mit Ingrid Bergman und Charles Boyer brauchte es satte 70 Jahre, um zum geflügelten Wort zu werden, das nun ständig auftaucht, wenn es um die Grundmalaisen der Gegenwartswelt geht. Spielte einst Bergman das einsame Opfer eines raffiniert eingefädelten Verbrechens, fühlen sich heute mehr und mehr Menschen generell als Opfer von Gaslighting.
Woran das liegen könnte? Der von Drehli Robnik und Joachim Schätz herausgegebene Sammelband "Gewohnte Gewalt -Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino" gibt Antworten. In 50 Texten von ebenso vielen Beitragenden geht es darin um viel mehr als nur Filme - um Pandemie, Lockdown und neue Sehgewohnheiten, um Sexismus, Gewalt und den Zusammenhang zwischen Kino und Wohnzimmer. Und quer durch die Beiträge von unterschiedlicher Länge und Methodik irrlichtert der Begriff Gaslighting, nicht als roter Faden, sondern als produktive Irritation.
Das Schöne an diesem Band ist, dass es so wenig Systematik gibt; kein Kanon wird abgearbeitet, keine Analyse durchexerziert. Stattdessen regen die Herausgeber schon im Vorwort eher zum wilden Nachdenken und munteren Verbindungen-Ziehen an. Und die Autorinnen und Autoren folgen dieser Aufforderung mal mit abstrakten, mal mit sehr subjektiven Argumenten und Filmschilderungen.
Das Provisorium der Pandemiebedingungen, von dem immer noch nicht abzusehen ist, welche Folgen es tatsächlich haben wird, nutzen sie zur Neuentdeckung des Genres domestic thriller, das anscheinend schon immer vor aller Augen lag, aber irgendwie als intellektueller Beschäftigung unwürdig galt. In der Konjunktur des Gaslighting-Begriffs selbst zeigt sich, wie viel im Genre drinsteckt -und wie aktuell die darin verhandelten Konflikte für unsere Gegenwart sind.