

Nicht mit mir!
Robert Misik in FALTER 41/2024 vom 09.10.2024 (S. 19)
"Weise Alte wissen um die Vorteile der Langsamkeit", formuliert Bernd Marin. Persönlich freilich hält der 76-jährige Sozialwissenschaftler noch lange nichts davon. Er ist ein Schnelldenker, voll sprühenden Gedankenreichtums, stets auf dem Sprung von einer Überlegung zur nächsten Entdeckung. Nicht bei jeder Kapriole muss man dem seltsamen anarcho-libertären Sozialisten folgen, aber fast immer ist das, was er zu sagen hat, schlau und gewinnbringend.
Jetzt hat er Essays, Notizen, Glossen, Aufsätze aus rund 30 Jahren herausgebracht - und neu montiert, zu Kapiteln, die allesamt Phänomene der Gegenwart beleuchten. Im dritten Lebensalter hat der Direktor des Europäischen Bureau für Politikberatung und Sozialforschung die "Pop-Science" entdeckt. Da geht es um Zeitempfinden und Zeitmetaphern, um Lebensgier, Tempo und die Fallen der "Non-Stop-Gesellschaft", um das "Recht auf Faulheit", warum die Marktwirtschaft keine Marktgesellschaft werden dürfe, und zugleich darum, dass das aber auch nur eine Phrase ist in einer Welt, in der alles seinen Preis hat. Seine vergleichende Wohlfahrtsanalyse ist informativ und unterhaltsam.
Er nimmt uns mit auf die schrulligen Abwege von Statistik und Mathematik, am Ende wissen wir, wieso wir sogar Restlebenserwartung gewinnen, wenn wir uns mit dem Sterben nur lange genug Zeit lassen, also: Warum wir immer jünger werden, wenn wir altern.
Man kann das häppchenweise lesen. Marins Pop-Wissenschaft, das sind Miniaturen, viele davon richtig schmissig. Im Sauseschritt geht es vom "Wandel der Leitwerte" zur österreichischen "Lumpenbourgeoisie", weiter zur "Verrohung der Sprache" und zum eigentümlichen Neo-Faschismus. Der kommt als konformistisches Rebellentum daher, marschiert nicht mehr im Stechschritt, brüllt aber laut: "Nicht mit mir!" Statt Heldentum kultiviert er eine aufreizende Wehleidigkeit und sieht sich dauernd selbst als Opfer.