

Der Satiriker als Viel- und Überflieger
Christoph Bartmann in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 12)
In welcher seiner Lebensrollen – Dichter, Übersetzer, Aphoristiker, Vortragskünstler, Dramatiker, Journalist, Pressekritiker, Satiriker und anderes mehr – ist uns Karl Kraus noch gegenwärtig?
Ohne Zweifel ist Kraus präsenter als die meisten seiner Feinde, mit denen er sich zeitlebens publizistisch stritt. Aber es gibt andere Schriftsteller seiner Generation, Kafka etwa oder Thomas Mann, die besser gealtert sind als er, vielleicht auch nur, weil sie Prosa schrieben, die heute noch gelesen wird. Kraus hingegen hat seine aberwitzige Produktivität in Projekte gesteckt, die zu stark mit seiner – auch physischen – Gegenwart assoziiert waren, als dass sie ohne ihn hätten überdauern können.
An vorderster Stelle sind das die 37 Jahrgänge oder 922 Ausgaben der Fackel (1899–1936) sowie die 700 öffentlichen Vorlesungen, die Kraus über Jahrzehnte in Wien, Berlin, München und anderswo hielt. Kraus’ Frontalangriff auf seine Zeit war ebenso sehr ein mündlicher wie ein schriftlicher. Vom Mündlichen hat sich kaum etwas erhalten, und das Schriftliche ruht überwiegend in den Archiven.
Erste Anlaufstelle ist in diesem Fall das Karl-Kraus-Archiv in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus. Ebendort arbeitet auch die Historikerin Katharina Prager, die nun eine knappe und unkonventionelle Biografie vorlegt. Knapp ist sie im Vergleich mit den ausladenden Kraus-Biografien von (meistens männlichen) Autoren wie zuletzt jener von Jens Malte Fischer (2020). Unkonventionell ist Pragers Buch, denn es stellt, so die Autorin, „die erste historisch-feministische Auseinandersetzung“ mit Kraus dar.
Auch sonst ist es Prager darum zu tun, Kraus in Begriffe und Praktiken von heute zu überführen. Sie schreibt über dessen „Performance“, vom „Workaholic“, „Burnout“ und vom „male privilege“ und von „it-girls“. Unweigerlich stellt man sich Kraus im Amerika von heute vor. Würde seine Medienkritik, die natürlich eine Netz- und Plattformkritik sein müsste, gegen Donald Trump verfangen? In Wien war Kraus es gewohnt, seine Prozesse zu gewinnen, in den USA würden ihn die Klagen des Präsidenten wohl umgehend ruinieren.
Feministisch interessiert ist Pragers Biografie nicht nur, weil sie sich mit dem ambivalenten Frauenbild von Karl Kraus auseinandersetzt (ein Beispiel für dessen „Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie und revolutionärer Praxis“, um Walter Benjamin zu zitieren), sondern auch, weil sie Kraus in der Gesellschaft seiner „Zeitgenossinnen und Zeitgenossen“ präsentiert, wobei die Zeitgenossinnen überwiegen.
Zwar inszenierte sich Kraus gerne als menschenscheuer Einzelgänger, tatsächlich aber neigte er zur Geselligkeit – man müsste ihn wohl als „social butterfly“ bezeichnen. Sehr Kraus-gemäß hat Prager ihr Buch „inszeniert“, nämlich wie Kraus’ Weltkriegstragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ in fünf Akten und mit einer Vielzahl von Schauplätzen. Meist spielen die Akte in Wien, dann aber auch in Hamburg, Berlin, München oder auf Schloss Janovice; mal spielen sie in der Geschäftsstelle der Fackel, mal im Landesgericht für Strafsachen oder im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein.
Auf diese Weise entstehen tiefenscharfe Bilder von Kraus’ räumlicher und sozialer Umgebung, wie sie der Kraus-Biografik sonst unbekannt sind. Der bekennende Monomane brauchte eine Mitwelt, allein schon, um seiner am Theater gescheiterten mimetischen Leidenschaft ein Publikum zu verschaffen.
Aufgeschlossen für technische Neuerungen aller Art, nicht nur als früher Automobilist und späterer Vielflieger, besaß Kraus alle Voraussetzungen für eine präzise Zeitdiagnostik und war dennoch vor massiven politischen Fehleinschätzungen nicht gefeit: Seine späte Sympathie für den Austrofaschismus offenbart das immerwährende „Wechselspiel“ seiner Auffassungen. Einen verlässlichen Verbündeten, einen „Ally“ gar, in welcher Sache auch immer, kann man sich in Kraus nur schwer vorstellen. Dafür bleibt der Mann auch beim Heranzoomen aus großer Ferne zu fremd und zu erratisch.
Wie macht sich nun das Feministische in Pragers Ansatz geltend, genauer das Historisch-Feministische? Ein Feminist avant la lettre ist Kraus auch in ihrer Darstellung nie gewesen. Zwar artikuliert er als bekennender Erotiker früh einen antibürgerlichen und, wenn man will, antipatriarchalen Affekt. Kraus spricht sich, so Prager, „gegen die moral panic, die Sexfeindlichkeit und heuchlerische Prüderie seiner Zeit“ aus, womit „vieles in die richtige Richtung“ weise.
Wenn Kraus dann aber sogleich dem „Weibe“ „kulturelle Aufgaben“ zuweist, die jenen des Mannes diametral entgegengesetzt sind („Material männlicher Schöpfungslust“, „Multiplikator männlicher Energien“), dann muss man, falls milde gestimmt, konstatieren, dass er „doch immer wieder in den Vorannahmen seiner Zeit stecken“ bleibt.
Das Problem von Karl Kraus in diesem Zusammenhang bestand vielleicht darin: Bei aller teils heilsamen, teils auch nur obsessiven Konzentration aufs Sprachliche bleibt bei ihm die Theorie auf der Strecke; es fehlte ihm dazu wohl einfach das Talent, ähnlich wie das zum Theaterspielen.
An Freud, der gewiss auch mit den „Vorannahmen seiner Zeit“ zu schaffen hatte, hätte Kraus sich im Feld der Sexualtheorie weiterbilden können. Diese Chance ließ er aus, stattdessen machte er sich über die Psychoanalyse auf unlustige Weise lustig, wie er überhaupt ungern von Zeitgenossen lernte (nach Goethe und Shakespeare kam für ihn nicht mehr viel). Katharina Pragers Biografie führt uns Kraus mit all seinen Widersprüchen vor Augen. Je näher man ihn dabei anschaut – um ein Kraus-Wort zu variieren –, desto ferner schaut er möglicherweise zurück.