

Zur politischen Ökonomie Österreichs
Johannes Jäger in FALTER 3/2017 vom 20.01.2017 (S. 62)
Wie sich in 20 Jahren österreichischer EU-Mitgliedschaft das Verhältnis von Markt und Staat zueinander verändert hat
Spezifische Formen von Staat und Markt manifestieren sich auf der nationalen Ebene. Daher ist eine konkrete Analyse Österreichs sehr aufschlussreich. Eine solche Untersuchung muss auch den Kontext der Europäischen Union berücksichtigen. Der vom BEIGEWUM (Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen) herausgegebene Sammelband zum 20-jährigen EU-Beitrittsjubiläum stellt eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen in Österreich dar.
Im Band wird deutlich, dass die Gegenüberstellung von Staat und Markt zu kurz greift, um wirtschaftliche Entwicklungen zu verstehen. Die Vorstellung einer solchen Dichotomie basiert auf einem wirtschaftsliberalen Verständnis. Ein Mehr an Liberalismus ging in den letzten 20 Jahren mit jedoch sehr niedrigem Wirtschaftswachstum und der Zunahme von Ungleichheit einher. Privatisierung und Deregulierung haben damit nicht zu den offiziell erwünschten Entwicklungen geführt. Aus Sicht liberaler Wirtschaftstheorie scheint dies paradox. Es kann aber mittels politökonomischer Zugänge erklärt werden. Wie im Band deutlich ausgeführt, zeigt sich jedoch, dass neoliberale Entwicklung nicht „weniger“ Staat bedeutet, sondern die Rolle des Staates eine „andere“ ist.
Der Staat ist daher weder „gut“ noch „böse“. Es geht vielmehr um die Frage, welchen Klassen und gesellschaftlichen Gruppen es gelingt, eine Wirtschaftspolitik – und damit die spezifische Rolle des Staates und marktförmiger Strukturen – in ihrem Sinne durchzusetzen. In den vergangenen Jahrzehnten orientierte sich Wirtschaftspolitik zunehmend weniger an Arbeitnehmerinteressen, sondern vielmehr an Kapitalinteressen. Einen wichtigen Hebel dabei bildete die Europäische Union. Während die Integration in Europa bis in die 1970er-Jahre hinein durchaus noch darauf abzielte, nationale Entwicklungswege und Wohlfahrtsstaaten zu stützen, hat sich dies seit den 1980er-Jahren deutlich geändert.
Das neoliberale Dogma des „freien“ Marktes hat zu einer Machtverschiebung hin zur Kapitalseite geführt. Es erleichterte die Durchsetzung von Unternehmensinteressen auf europäischer Ebene, während nationale Klassenkompromisse zuungunsten von Lohnabhängigen erodierten, auch in Österreich. Die 2008 einsetzende Wirtschaftskrise in Europa hat diese Entwicklungen beschleunigt, wenn sich die Auswirkungen in Österreich auch bislang nicht so dramatisch wie andernorts gezeigt haben.
Im vorliegenden Sammelband steht im ersten Hauptteil die Analyse des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells und seiner Veränderung im Vordergrund. Die detaillierte Untersuchung einzelner Wirtschaftssektoren wie Industrie, Landwirtschaft, Banken und Dienstleistungen wird ergänzt um regionale Aspekte der österreichischen Wirtschaft. Generell zeigt sich, dass das in Österreich entstandene exportgetriebene Wirtschaftsmodell eine Konsequenz der mit dem Neoliberalismus verbundenen Schieflage der Einkommensverteilung darstellt.
Der zweite Hauptteil beginnt mit einer Analyse der umfassenden Veränderungen, aber auch von Kontinuitäten wirtschaftspolitischer Institutionen. Damit verknüpft erfolgt die Untersuchung weiterer für die österreichischen Entwicklungen relevanter Politikfelder wie Budget-, Sozial-, Frauen-, Energie- und Arbeitsmarktpolitik. Im dritten Teilabschnitt des Buches wird systematisch die Frage nach den Gewinnern und Verlierern gestellt. Dabei wird besonders deutlich, dass die Veränderung staatlicher und marktförmiger Strukturen zuungunsten der Lohnabhängigen zu höherer sozialer Ungleichheit geführt hat.
Die Bilanz der letzten 20 Jahre seit dem EU-Beitritt fällt daher durchwachsen aus.Der Sammelband bietet einen ausgesprochen gelungenen, sehr gut verständlichen und mit aussagekräftigem empirischem Material versehenen fundierten Überblick. Dieses profunde Verständnis ermöglicht es, Ansatzpunkte für progressive Veränderungen auszumachen.