

Das Goldbrassenhafte der Thailänderin
Julia Kospach in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 8)
Da muss man durch: unveröffentlichte Reisenotizen des großen Schweizer Reiseschriftstellers Nicolas Bouvier (1929–1998)
Es gibt ein schönes Schwarzweißfoto von Nicolas Bouvier aus dem Jahr 1954. Es zeigt ihn als 25-Jährigen in Teheran. Er sitzt, nur mit einer weißen Unterhose bekleidet, auf einem sonnenbeschienenen Fliesenboden vor ein Ziegelwand, hat eine Zigarette im Mundwinkel und hackt mit gebeugtem Kopf auf eine kleine Reiseschreibmaschine ein, die zwischen seinen locker angewinkelten Beinen steht. Er wirkt wie der Poster-Boy der Reiseschriftstellerei: gut aussehend, muskulös, ernsthaft und kühn.
Unterwegs war Bouvier damals auf jener zweijährigen Reise, die ihn und einen Freund in einem Fiat Topolino vom heimatlichen Genf über den Balkan, die Türkei, Persien und Pakistan bis Afghanistan und schließlich, allein, weiter zu einem durch Malaria zwangsverlängerten Aufenthalt auf Ceylon führte.
Aus dieser abenteuerlichen Fahrt entstand Anfang der 1960er-Jahre das legendäre erste Reisebuch des Französisch-Schweizers: "Die Erfahrung der Welt".
Bouvier fotografierte und er schrieb so bemerkenswerte Sätze wie: "Man spricht wenig, die verschiedenen turkmenischen Dialekte sind einfache Sprachen. Denken tun eher die Pferde." Auch gut 30 Jahre später – Bouvier war längst eine große Nummer unter den Reiseschriftstellern des 20. Jahrhunderts – konnte man solche abgebrühten Bemerkungen jederzeit von ihm haben: "Man stellt sich nicht vor, an welches entsetzliche Mass an Platz, Langweile, Bier die Leute hier gewöhnt sind", notierte er 1991 angesichts einer Kanada-Durchquerung per Zug.
Dabei werden Bouviers Reiseberichte meistens vor allem für ihre Poesie gerühmt. Sie kommen freilich ganz ohne barocken Ballast aus: "Hier braucht es superleichtes Gepäck und ein, zwei festverankerte Ideen – denn das Land schwimmt, die Stadt schwimmt, nachts ist es wie ein Fluss, auf dem die Karren mit den Karbidlampen und die auf einer ausgebreiteten Zeitung schlafenden armen Schlucker wie Gemüseabfälle auf grossen dunklen Fluten treiben", schrieb er 1970 über Jakarta.
Wirkliche Schönheit aber erlangen diese Berichte erst durch Bouviers todsicheren Blick für plastische Details, durch dessen Fähigkeit, mit zwei, drei Sätzen auch die fremdartigsten Szenen und Landschaften vorm inneren Auge bildhaft werden zu lassen und durch die Durchmischung all dieser Eleganz mit Sätzen von unverblümter, trockener Matter-of-Factness.
Belgische Studenten? "Plump und hässlich, aber nicht bösartig." Thailänderinnen? "Lange, schöne Beine, grosse, überraschte Augen und erinnern ein wenig an Goldbrassen, die man soeben aus dem Wasser gezogen hat."
All diese Sätze stammen aus dem Band "Es wird kein Bleiben geben", in dem "Unveröffentlichte Reisenotizen" von Bouvier aus sechs Jahrzehnten zusammengefasst, geordnet und unter Zugabe von zahlreichen erklärenden Fußnoten ediert sind. Von Bouvier selbst waren sie nicht für die Veröffentlichung gedacht. Verlage, Erben und Bouvier-Forscher haben anders entschieden. Kann man verstehen.
Die Lektüre dieser Notizen ist ein nicht unbeträchtliches, allerdings auch ziemlich zwiespältiges Vergnügen und richtig fruchtbar wohl nur für eingefleischte Bouvier-Forscher. Es stimmt: Anhand dieser Aufzeichnungen lässt sich Bouvier über Jahrzehnte begleiten: von einer Belgien- und Dänemarkreise im Jahr 1948 über Frankreich und Nordafrika in den 1950ern, Indonesien 1970, China 1986 und Kanada und Neuseeland Anfang der 1990er-Jahre.
Es ist alles da, was man an Bouvier bewundert. Aber man muss es sich unter viel Nebensächlichem, schnell hingeworfenem Terminkalenderstakkato herausklauben: "Froh, um 16 Uhr wieder im Hotel zu sein. Gebadet. Karten und Briefe geschrieben. Absolut keine Lust, im Bus in diese Stadt zurückzufahren, die mir nicht gefällt."
Da muss man wohl durch. Bouvier ist immer noch Bouvier, der große, beglückende Reisedichter, auch dann, wenn er sich 1992 im Mietauto auf einer langen, schwarzen Überlandstraße in Neuseeland selbst fragt: "Was suchst du hier, in deinem Alter, am Arsch der Welt?"