

Lesebuch aus der Feder des regierenden Weltökonomen
Robert Misik in FALTER 23/2021 vom 11.06.2021 (S. 20)
Wenn Sie durch die jüngsten Geschehnisse nicht radikalisiert worden sind, dann haben Sie einfach nicht achtgegeben“, schreibt Paul Krugman, und irgendwie ist das auch eine Metapher für die Entwicklung des bedeutendsten Weltökonomen in den vergangenen 20 Jahren. Paul Krugman hat hingesehen – und ist dabei immer entschlossener und radikaler geworden. Denn mit kleinen Pflasterchen lassen sich die klaffenden Wunden nicht mehr heilen. Nicht mehr kleine Trippelschritte, sondern großer Mut ist gefragt.
Nachlesen kann man das im neuesten Buch des Wirtschaftsnobelpreisträgers, „Arguing with Zombies“. Der Band versammelt Essays, Untersuchungen, Kommentare und Blogbeiträge aus den vergangenen Jahrzehnten. Erschienen ist die Sammlung bereits im Vorjahr, jetzt ist die Taschenbuch-Ausgabe da, ergänzt um ein Vorwort, das die Pandemie und die (post-)pandemische Wirtschaftskrise ins Auge nimmt. Übrigens: Im Juli kommt dann die deutsche Übersetzung in die Geschäfte.
Die Texte zeigen auch einen Wirtschaftswissenschaftler, der vom Elfenbeinturm herabstieg und seine regelmäßigen Kolumnen in der New York Times und seine Wirtschaftsblog-Posts auf der Website der Zeitung schreibt – einen also, der sich in den täglichen politischen Meinungskampf wirft, auch in die Polemiken einer zunehmend polarisierten Gesellschaft.
Im Grunde, so der Wirtschaftshistoriker Paul Tooze, ist die Textsammlung so etwas wie eine „Siegeserklärung“. Denn Krugman habe den ökonomischen Meinungskampf gewonnen. Tooze: „Krugman rules.“ Vor 20 Jahren dominierte noch der Neoliberalismus, Krugman selbst war auf dem moderaten „Mittelweg“ des Neo-Keynesianismus unterwegs, also auf gemäßigter Kompromissspur zwischen rechts und links, wie das eben in der Clinton- und Blair-Ära dominant war. Danach rückte Krugman immer mehr nach links und heute ist diese Meinungsschlacht gewonnen.
„Bidenomics“, die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten Joe Biden, ist progressiver als alles, was wir in den vergangenen 50 Jahren erlebt haben. Und Krugman hat diesem Paradigmenwechsel den Weg bereitet. Nicht alleine – aber er war die einflussreichste und nachhaltigste Stimme in diesem Prozess.
Aufmerksame Leser von Krugmans Kolumnen kennen viele Texte in dem neuen Buch bereits, und auch manche unbekannten Texte lesen sich vertraut – Krugman hat sich in den vergangenen Jahrzehnten oft wiederholt, auch das ist eine Notwendigkeit, wenn man eine Debatte gewinnen will. Es reicht nicht, die Dinge einmal zu sagen, man muss das so lange tun, bis das Argument Kreise zieht.
Krugman hat so viele geflügelte Worte geprägt, etwa das Märchen von der „Vertrauensfee“ („confidence fairy“) über die wirtschaftsliberale Sicht, dass staatliche Sparpolitik („austerity“) zu einem Aufschwung führen würde, bis zu den neoliberalen Wirtschaftsexperten, den „sehr ernsthaften Leuten“ („very serious people“).
Legendär ist heute schon Krugmans großer Essay „How Did Economists Get It So Wrong?“ aus dem Jahr 2009, in dem er sich die eigene Zunft vornimmt, die mit falschen Ideen von Deregulierung und freien Finanzmärkten die Welt in das Desaster der Finanzkrise trieb.
So ist Krugmans Buch auch eine Art „große Theorie von allem“, von der Krise der akademischen ökonomischen Wissenschaft über Finanzblasen über den „Austeritätsmythos“, die Steuerpolitik, Ungleichheit, die Klimakatastrophe, den heutigen rabiaten Konservativismus und einen zeitgenössischen Sozialismus bis hin zur Gesundheitspolitik.F