

Von der Lotusblume zur Mondlandung
Tessa Szyszkowitz in FALTER 35/2023 vom 30.08.2023 (S. 17)
Indien ist auf dem Mond gelandet. Buchstäblich. Mit der sanften Landung der Sonde Chandrayaan-3 vorigen Mittwoch wurde Indien die vierte Nation, die eine erfolgreiche Mondmission verzeichnen kann. "Neue Weltmacht Indien" nennt Oliver Schulz sein Buch, das gerade rechtzeitig erschienen ist.
Der deutsche lndien-Experte bereist das Land seit Jahrzehnten und hat den Aufstieg Indiens zur wirtschaftlichen und politischen Großmacht in deutschen Medien wie Spiegel, Zeit und FAZ journalistisch begleitet. Was Schulz in seiner Arbeit als Reporter bemerkt hat, gehört zu den Schattenseiten des indischen Erfolges: Die Offenheit ist weg, die dem ausländischen Journalisten früher entgegengebracht wurde. Der Hindunationalismus von Narendra Modi hat die Gesellschaft umgeformt. Oft gewinnt bei seinen Gesprächspartnern die Angst Oberhand über die Neugier.
Von Gandhi bis Modi
So weit spannt Schulz den Bogen: Er beschreibt den letzten Tag im Leben des "Mahatma", der "großen Seele", den 30. Jänner 1948. Ein halbes Jahr nach Indiens Unabhängigkeit vom britischen Empire liegt Indien in Trümmern. Die Hindunationalisten machen gegen Gandhi mobil -er ist zwar orthodoxer Hindu, aber kein Nationalist. "Die hindu-muslimische Einheit ist sein größtes gesellschaftspolitisches und kulturelles Anliegen", schreibt Schulz und zitiert Gandhi: "Ich glaube fest daran, dass alle großen Religionen der Welt Wahrheit enthalten. Es wird keinen dauerhaften Frieden auf der Welt geben, wenn wir nicht lernen, nicht nur anderen Glauben zu tolerieren, sondern als unseren eigenen zu respektieren."
Davon ist Indien 2023 weit entfernt. Schulz beschreibt den Aufstieg des heutigen starken Mannes, Narendra Modi, ausgehend von Gewaltexzessen in Godhra im Jahre 2002, als Modi noch Regierungschef des Bundesstaates Gujarat war. Die Massaker von Hindunationalisten gegen Muslime dauerten zwei Monate und waren die schlimmsten in der jungen Geschichte des Landes. 200 Millionen Muslime leben in Indien, sie sind die größte Minderheit bei einer Bevölkerung von eineinhalb Milliarden. Schon damals begann Modi, den Keil immer tiefer in die Kluft zwischen Hindus und Muslimen zu treiben. Es wurde die Grundlage seiner Machtergreifung.
Kaschmir und Kasten
Schulz widmet sich auch Kaschmir, dem Zankapfel zwischen Indien und Pakistan. Fünf Kriege haben sich die Erzfeinde darum geliefert, ohne Aussicht auf Frieden. Sowohl historisch als auch linguistisch geht er auch den Ursprüngen des Kastensystems auf den Grund, das der britische Kolonialismus dann benutzte, um Indien leichter zu kontrollieren. Heute ist das Kastensystem, schreibt Schulz, immer noch "überall Teil des Alltags, obwohl es schon lange nicht mehr existieren sollte".
Als Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, enthielt Indien sich bei der Verurteilung durch den Uno-Sicherheitsrat der Stimme. "Denn Indien ist militärisch abhängig von Russland", schreibt Schulz. Indien hat die russischen Ölimporte seit Februar 2022 drastisch erhöht. Doch das Land, ursprünglich als blockfreier Staat gegründet und von sozialistischen Ideen geprägt, will es allen Seiten recht machen. Wer letztens die Bilder vom BRICS-Treffen in Südafrika, an dem Modi neben Putin (per Video) teilnahm, befremdlich fand, dem sei Schulz' Buch schon deshalb empfohlen. Nach der Lektüre wundert einen nichts mehr.