

Der Posterboy der Kognitionsforschung
Julia Kospach in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 50)
Biologie: Der Oktopus ist viel intelligenter, als wir denken. Und Sy Montgomery beschreibt ihn famos
Was ist das? Es hat einen Schnabel wie ein Papagei, Gift wie eine Schlange und Tinte wie eine Füllfeder. Es hat blaues Blut, acht Arme und drei Herzen, sein Hirn trägt es um den Hals gewickelt und es kann mit seinem ganzen Körper schmecken. Es bringt mitunter das Gewicht eines Menschen auf die Waage, kann ausgestreckt Autolänge erreichen, und doch passt es durch jedes faustgroße Loch. Es ist ein Meister der Tarnung. Eigensinnig und intelligent ist es noch dazu. Sehr intelligent. So intelligent, dass es in den letzten Jahren zum Posterboy der Kognitionsforschung aufgestiegen ist.
Auch wenn das alles klingt, als würde es sich um ein Geschöpf von einem anderen Stern handeln, das gesuchte Wesen ist ganz und gar irdisch: der Oktopus. Wenn man anfängt, sich genauer mit den achtarmigen Meeresweichtieren zu befassen, werden sie unversehens faszinierend. Genau so erging es der US-amerikanischen Naturforscherin und preisgekrönten Buchautorin Sy Montgomery. Und weil Montgomery wie alle leidenschaftlichen Naturliebhaber von der Sehnsucht angetrieben ist, wenigstens ein bisschen die Grenzen zu überwinden, die uns von anderen Spezies trennen, wollte sie unbedingt „einen Oktopus kennenlernen“, „eine alternative Lebenswirklichkeit berühren“ und „eine andere Art von Bewusstsein erkunden“.
Also ging sie ins New England Aquarium in Boston, wo Pazifische Riesenkraken gehalten werden, und kam über Jahre immer wieder, verbrachte ganze Tage und Nächte dort, sprach mit Wissenschaftlern und Tierpflegern, fuhr in die Südsee zur Oktopus-Feldforschung, besuchte Fachtagungen, ließ sich Forschungsprojekte erklären und von erstaunlichen Begegnungen mit Oktopussen in der Natur erzählen und freundete sich, buchstäblich, mit Athena, Octavia, Kali und Karma – den vier Oktopus-Exemplaren des Aquariums – an.
Über ihre Erfahrungen und Recherchen hat Sy Montgomery „Rendezvous mit einem Oktopus“ geschrieben, ein fesselndes Buch, das zu Recht ein New York Times-Bestseller war und auf der Shortlist für den National Book Award stand. Wenn man – um die einzige Kritik daran vorwegzunehmen – diesem Buch voller Erkenntnisse über eine fremdartige Kreatur etwas vorwerfen kann, dann vielleicht, dass es Montgomery mit den Schilderungen ihrer Freundschaftsgefühle für die drei, vier vorkommenden Oktopoden-Exemplare etwas übertreibt. Hätte sie ein Lektor etwas beherzter dazu aufgefordert, hier und da eine gefühlige Passage zu dämpfen, wäre die Glaubwürdigkeit ihrer tiefen Bindung an eine maritime Lebensform vermutlich eher gestiegen.
Hier soll aber nicht gespottet werden über jemanden, der einen Oktopus individualisiert. Im Gegenteil: Dass man die unglaubliche Fülle ihrer Fähigkeiten so lange weder beschrieben noch erforscht hat, liegt, wie Montgomery erläutert, sicher auch daran, dass man sich in der Scientific Community noch bis vor kurzem allzu leicht lächerlich gemacht hat, wenn man Tiere, noch dazu Weichtiere, die zum selben Tierstamm wie hirnlose Muscheln gezählt werden, als Individuen beschreiben wollte.
Denn genau das sind Oktopoden, und es ist inzwischen gut belegt. Sie haben individuelle Charaktere, deren Ausprägungen weit über reine Instinktreaktionen hinausgehen. Sie zeigen deutliche Vorlieben und Abneigungen. Sie spielen, sie sind hemmungslos neugierig und erkennen Menschen wieder, beobachten sie und nehmen direkten Kontakt mit ihnen auf: lauter Dinge, die wir ansonsten vor allem mit intelligenten Säugetieren und einigen wenigen anderen Arten wie Raben in Verbindung zu bringen gewohnt sind.
Montgomerys Buch erzählt viel über menschliche Hybris und unsere Blindheit gegenüber Intelligenzformen, die vollkommen anders organisiert sind als die unsere. Ein von ihr befragter Experte im Buch beschreibt aktuelle Forschungen, die nahelegen, dass es sich bei Oktopoden um „eine Intelligenz ohne zentrales Ich“ handeln könnte, wobei sich offenbar jeder ihrer Fangarme wie eine eigene Persönlichkeit verhält und extrem eigenständig agiert.
Es deutet viel darauf hin, dass eine große Zahl sensorischer und kognitiver Prozesse gar nicht erst den Weg übers Oktopus-Gehirn nehmen, sondern in dezentralen Schaltstellen in den Fangarmen durchgeführt werden. Jedenfalls fängt die Forschung gerade erst an, diese Tiere zu verstehen, und je mehr man über sie erfährt, desto verrückter wird es. Diese Verblüffung spricht sehr deutlich aus Sy Montgomerys Buch und macht viel von dessen Reiz aus.
Fundiert recherchiert und zugleich schwärmerisch breitet sie ein ganzes Panorama tintenfischiger Kunststücke aus und beschreibt unter anderem, wie das Tintenfischweibchen Octavia aus dem Bostoner Aquarium mit einem ihrer Fangarme unbemerkt einen Eimer mit Fischen stibitzte, während sie gleichzeitig von sechs Menschen fasziniert beobachtetet wurde und drei von diesen mit ihren Fangarmen festhielt und aufs Genaueste abtastete.
Humoriges Fazit eines Neurowissenschaftlers: „Da wir vergeblich auf Marsbewohner warten, die sich untersuchen lassen würden, sind Kopffüßer neben Wirbeltieren die Einzigen, an denen wir studieren können, wie ein komplexes, intelligentes Gehirn entsteht.“
Angesichts des Umstandes, dass erst etwa 15 Prozent der Ozeane überhaupt erforscht sind, darf man sich jedenfalls auf all die wunderbar wandlungsfähigen Lebewesen freuen, die dort in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch zu entdecken oder wie der Oktopus genauer zu erforschen sind.