

Wie viel Liebe braucht der Mensch?
Tobias Heyl in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 14)
Systematisch und virtuos untersucht Frank Schulz das Liebesbedürfnis des Homo sapiens hamburgensis
Gewöhnlich verpasst nicht viel, wer ein Motto überblättert: vielleicht einen mehr oder minder eitlen Hinweis auf die Geistesverwandtschaft, in welcher der Autor sein Buch verstanden
wissen will. Es kann auch eine hermetische Andeutung sein, offensichtlich nur dazu gedacht, dem Leser Respekt einzuflößen. Immer häufiger schrumpft das Motto zur Ironisierung seiner selbst zusammen, als Zitat aus dem täglichen Sprachmüll, über das sich der Autor augenzwinkernd mit seinem Leser verständigt.
Frank Schulz stellt an den Anfang seines neuen Erzählungsbands ein Motto, das man keinesfalls auslassen darf, will man den folgenden Geschichten gerecht werden. Es stammt von Marie von Ebner-Eschenbach und klingt ein bisschen moralisch, aber insgesamt harmlos: "Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen."
Lässt man sich diesen Satz eine Zeitlang durch den Kopf gehen, entwickelt er einiges existenzielles und misanthropisches Potenzial. Brauchen die meisten Menschen mehr Menschen, die sie lieben? Oder wollen sie intensiver geliebt werden? Wie verdient man sich Liebe? Kann man sich Liebe überhaupt verdienen? Auf so grundsätzliche Fragen weiß natürlich auch die Literatur keine Antwort. Aber sie haben Frank Schulz zu einem Zyklus inspiriert, der der unterschätzen Gattung der Erzählung zu neuem Recht verhilft und nebenbei auch die Funktion des Mottos auf brillante Weise rehabilitiert.
Diese 22 Erzählungen handeln von Menschen, die glauben, zu wenig geliebt zu werden. Schon seit seinem Debüt vor gut 20 Jahren, seit "Kolks blonde Bräute", findet sich in der deutschen Literatur niemand, der Schulz im Fach Hyperrealismus ernsthaft Konkurrenz machen könnte. Damals spielten seine Geschichten noch in Hamburger Vororten, hart an der Grenze zwischen Kleinbürgertum und Prekariat. Es wimmelte von derben und burlesken Szenen, die Dialoge hielten mit phonetischer Genauigkeit den Tonfall der Figuren fest, kein Detail war zu banal oder zu widerlich, um eine bestimmte Szenerie auszustaffieren.
Diese Kunstfertigkeit, mit der er eine regelrechte Fangemeinde um sich scharte, ist Schulz natürlich nicht verlorengegangen. Aber er hat sein Repertoire, wie in diesem Band nachzulesen, deutlich erweitert. Das Personal, teilweise aus den früheren Romanen bekannt, ist bürgerlicher geworden, man findet es nun nicht mehr nur in billigen Kneipen, sondern auch an schicken Schreibtischen in den Redaktionen von Gruner + Jahr: eine Comédie humaine Hamburgs und seiner Nachbarschaft.
Doch nicht nur das soziale Setting hat sich erweitert. Schulz hat sich zu einem Virtuosen der Form gesteigert, der für jede Geschichte eine eigene, zwingende Erzähltechnik entwickelt. Die Längen variieren zwischen drei und 30 Seiten, und es finden sich darunter weiterhin deftig-burleske Stücke, dazwischen aber auch die minutiöse Schilderung einer Hafenrundfahrt, die auf einen banalen, aber nachhaltigen Akt der Kränkung zusteuert: eine Ladung Möwendreck, die einem Fahrgast auf die Mütze fällt.
Manche Erzählung ist so geschwätzig, dass man sie wie ein Dramolett liest, dann wieder spielt Schulz mit dem Briefroman, um in einem fiktiven Briefwechsel die Nöte eines Ehepaars zwischen Weltkrieg und Frieden zu entwickeln.
Klar: Da zeigt einer, was er kann. Aber es geht ihm nicht um Virtuosität, es geht ihm um 22 Variationen der ungenügenden Liebe. Und die stellt sich bei Dörchen, die kurz vor der Goldenen Hochzeit erfährt, dass ihr Mann sich jahrelang im Moulin Rouge vergnügt hat, anders dar als bei dem jungen Medienmann Büttner, dem der Job gekündigt und das Auto geklaut wurde, kurz nachdem ihm die Frau davongelaufen ist.
Auf ihn trifft Ebner-Eschenbachs Sentenz vielleicht am wenigsten zu, denn er irrt einfach verzweifelt und wie narkotisiert durch die Stadt, ohne irgendeine Liebe für sich zu fordern – ob er sie sich verdient hätte, wissen wir nicht, gebraucht hat er sie sicher.
Katja, die Arzthelferin, wird zwar geliebt, aber sie liebt einen anderen, einen Griechen, den sie im Urlaub mit ihrem Mann kennengelernt hat und von dem sie sich noch ein ganz anderes Leben verspricht als jenes unterm ewiggrauen norddeutschen Himmel. Später erfährt sie, dass sich dieser Pavlos auf seine Weise seinen Lebenstraum erfüllt hat, mit einem Job im Hamburger Hafen nämlich, wo er endlich ordentlich verdient.
Geschieht Katja damit Recht im Sinne einer höheren Moral der Treue? Bei Schulz mischt sich in dieses Ende natürlich die Schadenfreude aller, die längst wissen, dass man von der Liebe nicht zu viel verlangen darf und sich im Zweifelsfall mit den Verhältnissen arrangieren möge.
Aber so medioker diese Katja auch konstruiert ist: Schulz gönnt ihr auch tragische Züge, denn schließlich kann ja die Hoffnung auf eine vollkommene Liebe nicht per se verboten sein. Damit behält sie ihre Würde, wie Schulz es überhaupt schon immer fernlag, seine Figuren bei aller unfreiwilligen Komik der Häme des Bescheid wissenden Publikums preiszugeben.
Dass sich der Mensch, wenn Ebner-Eschenbach Recht hat, immer zu wenig geliebt fühlt, gehört zu den tragischen Elementen seiner Existenz. Schulz arbeitet diese Tragik behutsam heraus, indem er auf literarisch souveräne Weise 22 Geschichten darüber ins Gespräch kommen lässt.