

Ein Mörder mit einem Händchen für Blumen
Klaus Nüchtern in FALTER 47/2015 vom 20.11.2015 (S. 35)
Wie sein Roman „Das fahle Pferd“ belegt, war der berüchtigte Terrorist Boris Sawinkow auch ein guter Schriftsteller
Das Schreckliche an Selbstmordattentätern ist, dass sie ihren eigenen Tod mehr oder weniger freudig in Kauf nehmen. Das verleiht ihnen gegenüber uns, die wir dies definitiv nicht wollen, eine gewisse Überlegenheit. Diese Arroganz gegenüber dem eigenen Leben ist
aber keineswegs eine Erfindung des aktuellen Dschihadismus, sondern grassierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Europa. „Guillotine, / Marterholz? / Ha, was soll’s! / Guillotine ist mein Leben. / Muss ich sterben? – ist mir recht. / Und der böse Henkersknecht / wird von mir auch noch verlacht: / Täglich werd ich umgebracht (…).“
Ob Boris Sawinkow in Moskaus berüchtigtem Lubjanka-Gefängnis vom Geheimdienst umgebracht wurde oder Suizid beging, hat zu zahlreichen Spekulationen Anlass gegeben. Fest steht, dass er zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen hatte, auch wenn er vermutlich nie persönlich Hand angelegt hat, sondern – wie bei den erfolgreichen Attentaten auf den russischen Innenminister Plehwe im Jahr 1904 und den Großfürsten Sergej Romanow ein Jahr danach – als Strippenzieher fungierte.
„Wenn es den Beruf des Terroristen nicht gegeben hätte, man hätte ihn für ihn erfinden müssen“, schreibt der Historiker Jörg Baberowski im Nachwort zu der beispielhaft edierten und kommentierten Ausgabe von Sawinkows Roman „Das fahle Pferd“, dessen Original 1909 in gekürzter und 1913 dann in vollständiger Fassung erschienen ist.
In den „Erinnerungen eines Terroristen“ hat Sawinkow detailgenau Auskunft über seine Tätigkeit gegeben und auch in „Kon’ blednyi“, so der russische Titel, wird die Planung und Durchführung eines Attentats auf den Generalgouverneur in Moskau minutiös beschrieben, ohne dem Handwerk des Tötens einen politischen oder metaphysischen Anstrich zu verleihen: „Wenn ich an ihn denke, verspüre ich weder Hass noch Groll. Auch kein Mitleid. Er ist mir gleichgültig. Aber ich wünsche ihm den Tod. Ich weiß: Sein Tod ist unerlässlich. Unerlässlich für den Terror und die Revolution. Ich glaube an die Gewalt, ich glaube nicht an Worte.“
Obwohl das Wort „Revolution“ fällt, unterscheidet sich der Ich-Erzähler, der als britischer Staatsbürger namens George O’Brian getarnt ist, von seinen Mitverschwörern durch seinen Nihilismus, der freilich selbst religiös getönt ist: „Es gibt keine Liebe, es gibt keine Welt, es gibt kein Leben. Es gibt nur den Tod. Der Tod ist die Krone, die Dornenkrone.“
Als George den Ehemann der von ihm angebeteten Jelena im Duell erschießt, kennt er kein Bedauern: „Ich habe einen Menschen getötet … Bisher hatte ich gute Gründe: Ich tötete nur im Namen des Terrors und im Namen der Revolution. (…) Aber jetzt töte ich einzig für mich. Ich will es so, also töte ich. Wer soll mich richten?“
Der Ich-Erzähler ist vernarrt in die Idee der Selbstermächtigung. „Wanja suchte Christus, Jelena sucht Freiheit. Mir ist es gleich, ob Christus, Antichrist oder Dionysos. Ich suche nichts. Ich liebe. Und darin liegt mein Recht.“ „Es ist wie es ist / sagt die Liebe“, schrieb der Lyriker Erich Fried. Sawinkows Terrorist sagt dasselbe – allerdings auch vom Terror. Ob Liebe oder Mord, die Struktur des „Arguments“ ist die nämliche und der Terror letztlich tautologisch: Er findet seine Begründung in sich selbst.
Der in Wien lebende Alexander Nitzberg, der zuletzt einiges von
Bulgakow, darunter auch „Der Meister und Margarita“, übersetzt hat, spricht sich im Nachwort des ebenfalls von ihm übertragenen Romans „Das fahlen Pferd“ vehement dagegen aus, den Ich-Erzähler mit dem Autor in eins zu setzen.
Dass George ein wenig so wirkt, „als habe eine Figur von Dostojewski (…) beschlossen, einen eigenen Roman zu schreiben“, spricht freilich nicht gegen eine solche Identifizierung.
Immerhin lassen sich auch die anderen Figuren eindeutig den Verschwörern aus Sawinkows unmittelbarem Umfeld zuordnen: So geht etwa die Figur der todunglücklichen und unglücklich in George verliebten Erna ganz offenkundig auf Dora Brillant zurück, die die Bombe für den Anschlag auf Plehwe konstruierte, zehn Monate nach dem Attentat verhaftet wurde und 1907 in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg in psychischer Umnachtung verstarb. Im Zivilberuf war sie übrigens Hebamme gewesen.
Sawinkow war nicht nur ein guter Terrorist, sondern auch ein guter Schriftsteller. Der literarische Rang seines Romans ist unumstritten. Nitzberg konzediert diesem gar, die Techniken der Neuen Sachlichkeit „fast zwanzig Jahre zu früh“ einzusetzen, und fühlt sich bei den Dialogen an die Dramen des Existenzialismus erinnert.
Er selbst hat seine Sache als Übersetzer hervorragend gemacht – soweit das ein des Russischen nicht mächtiger Rezensent zu beurteilen vermag –, lediglich eine Phrase wie „ist gebongt“ wirkt unangemessen salopp.
Das Überraschendste an dem Schriftsteller Boris Sawinkow ist seine poetische Power: „Das fahle Pferd“ enthält Evokationen von Wetter und Landschaften, dass es einem das Heu herunterhaut. In Zeilenbruch gebracht würden Gedichte daraus: „Ein breiter Weg, junge Birken am Rand. Rechts und links leuchten gelb die Äcker. Der Roggen wispert, der Hafer lässt seine pelzbewachsenen Köpfchen sinken. Und in der Mittagshitze liege ich ausgestreckt auf der weichen Erde. Die Ähren stehn stramm, rot blüht der Mohn. Es duftet nach Schleierkraut und süßen Erbsen. Lau schmelzen die Wolken. Lau schwebt über ihnen der Habicht.“