

Ein Hauch von Honig
Klaus Nüchtern in FALTER 11/2017 vom 15.03.2017 (S. 27)
Boris Sawinkow beschreibt in „Das schwarze Pferd“ den Russischen Bürgerkrieg
Sie kann mich wittern und dreht sich in der Dunkelheit des Stalls nach mir um – ein schielendes Auge blitzt kurz auf. Ich streichle ihr die elastische Brust, den biegsamen Hals. Sie will Zucker, ihre heißen Lippen suchen meine Hand. Aber ich habe keinen Zucker für sie.“
So beschreibt Boris Sawinkow eine Begegnung seines Helden mit der braunen Stute, die dieser Golubka getauft hat, was so viel wie „Täubchen“ oder „Schätzchen“ bedeutet. Sawinkow war ein Pferdenarr der besonderen Sorte. Den Roman, in dem er seine Erfahrungen als Terrorist – er war strippenziehend an der Ermordung des russischen Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe und des Großfürsten Sergej Romanow beteiligt – niedergelegt hat, betitelte er „Das fahle Pferd.“ Sawinkows Bürgerkriegsroman erscheint 14 Jahre später in Paris unter dem Titel „Das schwarze Pferd“. Da kann’s dann schon mal passieren, dass einem die Reiter der Apokalypse kurz einmal durcheinanderkommen (siehe Fußnote zu Seite 118 der von Übersetzer Alexander Nitzberg mustergültig annotierten Ausgabe).
Auch der ursprünglich als Titelheld vorgesehene Fedja, laut Nitzberg so etwas wie „die Karikatur der russischen Seele“, „liebt die Tierwelt über alles. Liebevoll pflegt er die Pferde, liebevoll melkt er die Kühe. Die sprachlose Kreatur ist sein bester Freund.“
Sobald die Kreatur aber sprechen kann, ist’s mit der Zuneigung vorbei: Der George, dem Ich-Erzähler, in bedingungsloser Loyalität ergebene Fedja ist dessen Mann fürs Erschießen und Aufknüpfen. Er geht diesen Tätigkeiten mit gutgelauntem Enthusiasmus nach, wohingegen George die Tötungsbefehle mit ungerührtem Ennui ausspricht und sich im Moment der Urteilsvollstreckung abwendet. Was ihn nicht davon abhält, eigenhändig Kommunisten zu erschießen: „Ich kann mir beim Zielen viel Zeit lassen – ob von links, ob von vorne, ob mitten ins Hirn. Wozu auch die Eile, ich bin konzentriert, seelenruhig, ganz bei der Sache.“
George kämpft aufseiten der Weißen, dann auf derjenigen der Grünen gegen die Roten. Für Menschen, denen der Frontverlauf des Russischen Bürgerkriegs ein Buch mit sieben Siegeln ist, klingt das ein bisschen nach „Mensch ärgere dich nicht“. Und genau so wird es von Sawinkow eigentlich auch beschrieben.
Wie schon im fahlen macht er sich auch im schwarzen Pferd lustig über jene, die sich auf eine Gesinnung berufen, um das Töten zu legitimieren. „Was unterscheidet mich“, fragt sich George, „von einem Kommissar? Unser Glaube freilich, der ist anders, unseren Taten ist das nicht anzusehen. Wir sind mit derselben Myrrhe gesalbt. Da bekämpfen wir uns, doch der einfache Mann verflucht uns beide, die Weißen wie die Roten.“
George trägt denselben Vornamen wie der Ich-Erzähler aus „Das fahle Pferd“, der sich als Inhaber eines britischen Passes den Namen O’Brian zugelegt hat. Darüber hinaus wird im schwarzen wiederholt aus dem fahlen Pferd zitiert, weswegen die Annahme berechtigt ist, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Und wer den Hinweis, man dürfe den Autor auf keinen Fall mit seinen Figuren verwechseln, für eine Binsenweisheit hält, mag den Schluss ziehen, dass Sawinkow seine Georges mit den eigenen Ansichten und Charakterzügen ausstaffiert hat.
Der Autor selbst unterhielt jedenfalls enge Kontakte zum britischen Geheimdienst, war zunächst Mitglied der Sozialrevolutionären Partei und kämpfte im Bürgerkrieg dann unter anderem aufseiten der Weißen gegen die Bolschewiki. Durch eine Finte der Geheimpolizei Tscheka (Akronym für: „Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Sabotage und Spekulation“) aus dem Pariser Exil in die Sowjetunion gelockt und verhaftet, bekennt Sawinkow in einer schriftlichen Aussage vom 21. August 1924, sich in der Einschätzung der Russischen Kommunistischen Partei (RKP) geirrt zu haben: „Was blieb, waren rein ideologische Meinungsverschiedenheiten: Die Internationale oder die Heimat? Die Diktatur des Proletariats oder die Freiheit? Aber wegen bloßer Meinungsverschiedenheiten erhebt man kein Schwert und wird nicht zu Feinden (…). Ob das russische Volk nun gut oder schlecht ist, ob es irrt oder recht hat – ich als Russe habe mich nach ihm zu richten. Urteilt also über mich, wie ihr wollt.“
Das verhängte Todesurteil gegen Sawinkow wird in zehn Jahre Haft umgewandelt, die der Verurteilte trotz ausgesprochen komfortabler Haftbedingungen – Geliebtenbesuche, Cognac, Opernbesuche – nicht abwartet: Am 7. Mai 1925 stürzt er sich aus dem fünften Stock des berüchtigten Lubjanka-Gefängnisses und stirbt.
In „Das fahle Pferd“ hat Sawinkow den Nachweis erbracht, dass der Terrorismus tautologisch ist – letztlich genügt er sich selbst. Der George aus „Das schwarze Pferd“ indes kommt nicht ohne letzte Instanz aus. Nicht ganz so oft wie aus der Offenbarung zitiert der erstaunlich bibelfeste Mann das Hohelied der Liebe, und hymnisch wird auch die Liebe zur Heimat besungen: „Russland ist Olga, Olga ist Russland. Ohne Olga wird meine Liebe zu Russland ihrer einstigen Tiefe beraubt. Ohne Russland verliert meine Liebe zu Olga ihren allumfassenden Sinn“, heißt es in dem nur wenige Sätze umfassenden Eintrag zum 6. November in dem tagebuchartigen Roman. Vier Tage später wendet sich George – pars pro toto – der Stadt zu, nach der schon Tschechows drei Schwestern seufzten: „Moskau ... Moskau ist der Anfang und das Ende meines Lebens. Ohne Moskau, ohne seine krummen Gassen, ohne die Christus-Erlöser-Kathedrale, ohne Arbat, ohne das Kreml-Tor, ohne seinen Glanz und seine Glorie, seine Armut und seine Kläglichkeit existiert keine Heimat, existiert kein Ich.“
Die Erfüllung der Wünsche indes birgt die Enttäuschung. Die Rückkehr in die geliebte Stadt und zur Geliebten gerät zum Desaster. Olga ist Kommunistin, und auch Moskau hat sich, wie George am 5. Februar feststellen muss, verändert: „Heute ist mir alles fremd. Auf den Plätzen die neuen Staatsmonumente. Auf den Ladenschildern für das russische Ohr verletzende Wörter. Ein Denkmal für Marx. Mein Gott, für Marx! ... Und gleich daneben Vokogewe ... Proletkult ... Moskbeheizkom ... Vokoern (…).“
„Ein Henker, aber nicht ohne Lyrismus“, urteilte Maxim Gorki über Sawinkow. Das lässt sich auch von George behaupten, der – wie schon im „Fahlen Pferd“ – durch seine hymnischen Naturschilderungen besticht. Der Bürgerkrieg hält für den Adrenalin-Junkie und erbitterten Feind der Alltagsroutine nicht nur Action, sondern auch Ekstasen der Kontemplation bereit, gleich einem Thoreau’schen Rückzug in die Wälder: „Die Linden blühen. Die Erde ist mit fahlgelben duftenden Blättern besprenkelt. Der Wald leidet unter der Schwüle, atmet den Hauch von Erdbeeren und Honig. Ohne Eile pfeift sein Lied der Wiedehopf, ohne Eile picken in der Fichtenrinde die Kleiber, und hell schreit in den tauenden Wolken der unsichtbare Habicht. Tagsüber sorgenloses Leben, nachts der Tod.“