

Die Geschichte einer ganz großen Liebe
Christina Vettorazzi in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 12)
Im September wäre der österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth 130 Jahre alt geworden. Mit Werken wie „Radetzkymarsch“ und „Hiob“ zählt er zu den renommiertesten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Der deutsche Autor Jan Koneffke gratuliert mit seinem neuen Roman „Im Schatten zweier Sommer“ und dichtet ihm eine Freundin namens Fanny Fischler an.
Nach seiner eigenen Familiensaga, deren Abschluss „Sonntagskind“ bildet, hat Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, nun wieder ein persönlicher Zugang zu einer Geschichte geführt. Durch Zufall erfuhr er, dass er im selben Haus in der Wiener Rembrandtstraße einzog wie der Student Roth ungefähr hundert Jahre zuvor.
Das regte seine Fantasie so sehr an, dass er die Figur Fanny Fischler samt Geschichte erfand. „Im Schatten zweier Sommer“ ist kein Roman, der allein literaturgeschichtlich Interessierte und Roth-Fans begeistern wird. Koneffke erzählt in einer eindringlichen Sprache die Geschichte einer ganz großen Liebe: „Es war das Unabgegoltene, das sie am Leben hielt, eine sperrangelweite offene Sehnsucht, die sich nie hatte austreiben lassen.“
Die Gliederung ist scheinbar simpel, der dahinterstehende Ansatz höchst komplex. Der Erzähler des Romans – nicht Koneffke – erfährt durch Tonbandkassetten und ein Tagebuch von der Liebesgeschichte. Die Beziehung von Roth und Fischler gliedert sich primär in zwei Sommer der Jahre 1914 und 1938.
Ihr Nachlass funktioniert in diesem Zusammenhang wie ein großer Fundus: Der Erzähler findet darin alles, was er selbst braucht, um seinem Publikum die Geschichte einer dramatischen Jugendliebe zu schildern.
Roth kommt nicht rein positiv rüber. Der Student und Lyriker wird von Unsicherheit, Kontrollzwängen und einer damit einhergehenden Eifersucht geplagt. Auf die Frage, warum die Jugendliebe zerbrach, antwortet er kryptisch: „Das Naturgesetz, das zwischen Liebenden waltet, besonders den jungen, die romantisch veranlagt sind. Es regelt die Annahmen und Ahnungen der heimlichen Regungen des anderen, die – ausnahmslos – falsch sind.“
Der reale Joseph Roth war ein Außenseiter, rastlos, lebte fast sein Leben lang in Pensionen, Hotels, bei Freunden oder als Untermieter. Das hat er mit Kleist, Hölderlin und Nietzsche gemeinsam. Stefan Zweig bezeichnet diese Wanderer unter den Künstlern als „Vaganten in der Welt“.
Diese Ruhelosigkeit greift Koneffke auf und macht sie zum Leitmotiv seines Romans. Roth kommt nie an. Er wandert von Bett zu Bett. Manchmal teilt er es mit jemand. Am Ende wird er seinem exzessiven Lebensstil erliegen.
Als Fischler ihm 1938 in Paris wieder begegnet, ist er bereits ein Gespenst. Der Alkohol setzt seinem Körper zu, doch sein Geist braucht den Stoff. Vielleicht ist das der Kunst höchstselbst geschuldet, womöglich auch dem Verlauf der Weltgeschichte. Roth sagt über seinen Gefährten, den Alkohol: „Was er verhindert, das ist nur mein unmittelbarer Tod … Ich werde tot umfallen, und zwar auf der Stelle tot umfallen, wenn man mir keinen Schnaps mehr zu trinken gibt …“
Fanny versucht noch, den Freund und Liebhaber zu retten, doch gelingt es ihr nicht. Im Mai 1939 verstirbt Roth. Damit verstummt eine der außergewöhnlichsten literarischen Stimmen des 20. Jahrhunderts.
Jan Koneffke hätte auch eine Biografie schreiben können, nachdem er von Roths einstiger Wohnadresse erfuhr. Die Form des Romans jedoch bietet ihm die Möglichkeit, freier mit ihm als Figur zu arbeiten – und ihm eine starke Frau zur Seite zu stellen, die ihn richtiggehend überstrahlt.
Mit „Im Schatten zweier Sommer“ hat Koneffeke eine grandios weibliche Geschichte um ein literarisches Schwergewicht des letzten Jahrhunderts gebaut.