

Can Dündar über die ersten hundert Jahre der Republik Türkei
Stefanie Panzenböck in FALTER 40/2023 vom 06.10.2023 (S. 28)
Können wir endlich zurück? Diese Frage stellen sich am 28. Mai 2023 einige türkische Intellektuelle in ihrem deutschen Exil, unter ihnen auch Can Dündar. In ihrer Heimat wird gewählt und sie alle hoffen, dass nun der Tag gekommen ist, an dem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit demokratischen Mitteln seines Amtes enthoben wird - und sie ein Rückflugticket in die Türkei buchen. Das Ergebnis ist bekannt. Auch dieses Mal siegte Erdoğan. Zwar knapp, aber doch.
In seinem neuen Buch "Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert türkische Republik und der Westen" geht der türkische Journalist Can Dündar von der Gegenwart aus -dem autokratischen Regime Erdoğans. Die Geschichte der türkischen Republik sieht er "im Gezeitenwechsel von Ost und West, Moschee und Kaserne, Bajonett und Knüppel, Demokratie und Autokratie", dazwischen spannt sich die titelgebende "rissige Brücke über den Bosporus". Den Anfang dieser Konfliktlinien, die die Türkei bis heute prägen, sieht Dündar in der Vergangenheit angelegt. Also beginnt er bei Kemal Atatürk, der die Republik im Oktober 1923 gründete, auf schnelle Reformen setzte, um sich dem Westen anzunähern, gleichzeitig aber nicht vor brutalen Maßnahmen zurückschreckte, um die Republik zu bewahren.
Dündar beschreibt die Jahre 1923 bis 2023 als Abfolge von Regierungen, die die Demokratie häufig nutzten, um sie abzuschaffen, und Militärputschen, die dem mit Gewalt ein Ende setzten. So lange wie Erdoğan konnte sich bisher niemand an der Macht halten. Auch mit der Europäischen Union geht Dündar hart ins Gericht, die, wenn ihr Erdoğan nützlich ist, bei Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gern wegschaut.
Besonders stark wird das Buch, wenn Dündar von seiner journalistischen Arbeit in den Wirren der Republik berichtet oder auch Persönliches preisgibt. Als die Armee 1980 putschte, ging er Brot holen. Währenddessen begann sein Vater, "bedenkliche" Bücher in den Ofen zu stecken.