

Leidenschaftliches Plädoyer für die Autonomie der Kunst
Kirstin Breitenfellner in FALTER 25/2024 vom 19.06.2024 (S. 28)
Zum hundertsten Todestag Franz Kafkas sind seine Texte in aller Munde, etwa das Diktum, dass ein Buch wie die Axt für das gefrorene Meer in uns sein müsse. Aber leben wir nicht in Zeiten, in denen Bücher "Safe Spaces" zu sein haben, in denen man vor Verletzungen, sogar vor Verstörung geschützt sein will? Dass Melanie Möller besagtes Kafka-Zitat an den Anfang einer Streitschrift stellt, ergibt Sinn. Sie heißt "Der* ent_mündigte Lese:r. Für die Freiheit der Literatur" und kämpft gegen das, was heute Cancel Culture, Wokeness oder Sensitivity Reading genannt wird. "Früher einmal hörte es auf den schlichten Namen Zensur", schreibt Möller.
Diese betrifft nicht nur Romane und Kinderbücher, sondern auch die Epen, Verse und Theaterstücke der Antike. Die Professorin für Klassische Philologie und Latinistik an der Freien Universität Berlin tritt mit ihrem Plädoyer für die Autonomie der Kunst nicht zuletzt zu deren Verteidigung an. Dazu begibt sie sich in die Niederungen des Diskurses in Zeitungen und Social Media und haut dabei selbst genüsslich auf die Pauke: mit Ironie, Sarkasmus und flapsigen Bemerkungen.
Die moralischen Maßstäbe der Jetztzeit werden nun nämlich schon an griechische Mythen gelegt. In einem klugen Schachzug schließt Möller in jedem Kapitel einen antiken mit einem zeitgenössischeren Autor bzw. einer Autorin kurz: Ovid und Joseph Brodsky, Catull und Casanova, Euripides und Annie Ernaux oder Sappho und Astrid Lindgren.
Die Trennung von Werk und Autor und die Folgen eines naiven Beziehens von Texten auf sich selbst sind dabei genauso Thema wie die Komplexität von Kunstwerken, die sich eindeutigen (moralischen) Interpretationen oft entziehen.
Statt für Verbote und Retusche argumentiert Möller dafür, die Studierenden und die Leserschaft sich selbst mit dem "Original in seinen ganzen Abgründen" auseinandersetzen zu lassen - und damit für eine Schule des kritischen Denkens.