

Kalte Mama, warme Oma
Linn Ritsch in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 11)
Romane über Mütter scheinen en vogue zu sein. Man denke an Maxim Biller, Daniela Dröscher oder auch Wolf Haas, der der seinen in „Eigentum“ auf gewitzte Weise ein Denkmal gesetzt hat. Oder an Silvie Schenk, die sich um Ausleuchtung der schmerzvollen, weitgehend totgeschwiegenen Geschichte ihrer „Maman“ im gleichnamigen Roman bemüht. Ähnlich mühevoll ist die Suche nach verschütteten Wahrheiten in Christine Vescolis „Mutternichts“. Wo es keine Geheimnisse gibt, kann man auch kein ganzes Buch deren Aufdeckung widmen.
Kein Wunder, dass es auch in Dagmar Leupolds „Muttermale“ ums Schweigen geht. Der Roman ist ein Ringen um Verständnis, was schon in den ersten Sätzen klar wird. In ihnen wird auch die fehlende Nähe in einer Mutter-Tochter-Beziehung, um die sich das Buch dreht, bereits spürbar: „Ich stelle dir nach, ich fahnde nach dir, ich nehme dich in Beschlag – und du bringst mich in große Verlegenheit, denn du hast keinen Namen. Mutter. Behausung. Kerker. Verschlusssache. Oberbefehlshaberin. Du bist […] mein ungelöster, mein unlösbarer Fall.“
Angesichts dieses entmutigenden Einstiegs mutet der darauffolgende Versuch, den Fall trotz allem zu lösen, zwar tapfer, aber wenig aussichtsreich an. Keine schlechte Vorbereitung auf das, was nun folgt: Anhand einzelner Episoden, Phrasen, Orte und Gegenstände wird ein Mutterporträt rekonstruiert, das viele Leerstellen enthält. Leupold erzählt in der zweiten Person; in klarer, aber stets nach den richtigen Worten suchender Sprache richtet sie ihren Monolog an die Mutter.
Trotz der bis zum Exzess mit Details ausgestatteten Beschreibungen – die knotigen Noppen vom Abrieb der Handtasche an den karierten Glockenröcken der jungen Mutter; die weichen, behaarten Pferdenüstern auf den Märkten, die sie als Kind zu besuchen pflegte – entzieht sich die Mutter nicht nur ihrer Tochter, sondern auch der Leserschaft: Distanz bleibt das bestimmende Element dieser fragmentarischen Erzählung.
Das ist zwar stellenweise erschöpfend, aber durchaus folgerichtig: Dorothea, vor der Roten Armee aus Ostpreußen geflohen und seitdem irgendwo in Westdeutschland wohnhaft, bleibt ihr Leben lang nicht nur ihrem Kind, sondern auch in der neuen Umgebung fremd. „Ganz daheim“ ist sie nur in Ostpreußen, wo die kleine Dorothea im Kreise der großen Familie und dem „Gesinde“ beim Abendessen saß und Unbeschwertheit trotz des gestrengen Vaters möglich war.
Kriegsbedingte Verluste, Fluchterfahrung, Erlebnisse als junge Krankenschwester, die Soldaten mit entstellten Gesichtern pflegt, eine wenig glückliche Ehe und die ewige Sehnsucht nach der verlorenen Heimat lassen diese Unbeschwertheit nur selten aufkommen, wie auch Tochter Dagmar erfahren muss: im Österreich-Urlaub, wo die Mutter spendabel ist und luftige Sommerkleider trägt, oder im Schwebezustand nach einem Kinoabend.
„Dein Leben nach dem Krieg zu würdigen, bedeutet Schadensvermessung“, schreibt Leupold und meint neben dem mütterlichen Unglück vielleicht auch ihr eigenes. Umso berührender sind die wenigen Momente, in denen nicht nur Frieden zwischen den beiden herrscht, sondern gar eine warme Nähe entsteht.
Eine solche Wärme strahlt in Jacqueline Kornmüllers Roman „6 aus 49“ gleichsam jede Zeile aus. Die ebenfalls problematische Beziehung zur Mutter kommt darin nur am Rande vor, denn erzählt wird hier vom Leben der Großmutter. Zu ihr hat die Erzählerin eine innige Verbindung, ihre Romanbiografie ist eine Hommage an eine starke Frau, hinter deren „großen, warmen Rücken“ sie sich geborgen fühlt, wenn sie bei ihr im Bett liegt und den Geschichten von früher lauscht.
Lina wächst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Bayern in jener Armut auf, die Kinder hungrig ins Bett gehen lässt und leicht zu früher Resignation oder Wut auf eine ungerechte Welt führen kann. Nicht so bei Lina. Wie es ist, so gut wie nichts zu besitzen, vergisst sie nie, aber sie ergreift jede Gelegenheit, die das Leben ihr zuspielt, mit beiden Händen. Sie verwandelt sie in Langzeitbeziehungen und erfolgreiche Unternehmungen. Neben eisernem Arbeitsethos und unbeugsamem Willen spielt in ihrem Leben aber auch eine gehörige Portion Glück eine wichtige Rolle. Von der sprichwörtlichen Tellerwäscherin steigt Lina zur Hotelbesitzerin auf, und 6 aus 49 beschert ihr dann tatsächlich auch noch einen Lottogewinn.
Um vom Glück, aber auch von Verlusten und Schmerz zu erzählen, findet die vor allem als Theaterregisseurin bekannte Kornmüller eine eigene poetische Sprache. Sie erinnert an Gesprochenes und schafft mit kurzen Sätze bemerkenswert treffsichere Charakterisierungen. Eine Großfamilie, die in Linas Hotel unterkommt, wird zum „Schwarm“, der sich stets in einem Zimmer aufhält. „Dort saßen die Schwärmer abends und schwärmten vor sich hin.“ Von Linas Heimatort Garmisch-Partenkirchen – die Stadt, die die Nazis aus Anlass der Olympischen Winterspiele von 1935 aus zwei getrennten Orten schufen – bleibt nur der Bindestrich, und deren Bewohner sind konsequenterweise die „Bindestrichler“.
Mehr noch als Dagmar Leupold erzählt Kornmüller die Geschichte einer vom Krieg gezeichneten, entwurzelten Generation, macht „6 aus 49“ die deutsche Kriegsvergangenheit zum Thema. Die Aufarbeitung eigener Erfahrungen verbindet beide Autorinnen, ebenso wie der gelungene Balanceakt, eigene Urteile offenzulegen und doch immer wieder respektvoll hinter den Protagonistinnen zurückzutreten und deren Geschichten für sich sprechen zu lassen.
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