

Ungeheuer ist das Synapsenfeuer in der Paranoia
Klaus Nüchtern in FALTER 46/2016 vom 18.11.2016 (S. 36)
Die Jury zum Deutschen Buchpreis hat den Frankfurter Lokalmatador Bodo Kirchhoff ausgezeichnet, die Kritik sieht das anders: Die aktuelle SWR-Bestenliste wird von Thomas Melle angeführt, Kirchhoff kommt unter den Top Ten nicht vor. Das jüngste Werk des aus Bonn gebürtigen Melle (Jg. 1975) reiht sich ein in die erstaunlich lange Liste autobiografischer Romane und Protokolle, in der sich deutsche Schriftsteller mit schweren und lebensbedrohlichen Erkrankungen auseinandersetzen. Nach Kathrin Schmidt („Du stirbst nicht“, 2009), David Wagner („Leben“, 2013), Wolfgang Herrndorf („Arbeit und Struktur“, 2013) und Benjamin von Stuckrad-Barre („Panikherz“, 2016) berichtet „Die Welt im Rücken“ unverstellt von den Schüben der manisch-depressiven Erkrankung, von denen Melle in den Jahren 1999, 2006 und 2010 heimgesucht wurde.
Melle ist genetisch vorbelastet: Seine Mutter ist depressiv und suizidal; der leibliche Vater macht sich aus dem Staub, der Stiefvater schlägt ihn. Der junge Mann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen erliest sich eine beachtliche Bildung, entsorgt während seiner Manie-Attacken aber ganze Festmeter der eigenen Bibliothek und Plattensammlung. Kontakte zum anderen Geschlecht sind nicht das Problem, aber weitgehend wahllos, kurzfristig oder zum Scheitern verurteilt; sogar beste Freunde halten dem Furor der Krankheit nicht stand, die den permanent ausrastenden, im Netz sich austobenden und bis zur kompletten Orientierungslosigkeit durch Berlin oder fremde Städte taumelnden Autor in ihrer Gewalt hat.
„Die Welt im Rücken“ ist ein erschütterndes und sehr berührendes Buch, das nicht eitel virtuos, aber dennoch souverän geschrieben ist, gerade weil es ästhetische Geschlossenheit gar nicht erst anstrebt und auf jeden fiktionalen Firlefanz verzichtet. Analytisch distanziert, dann wieder in sprachlich-rhythmischer Mimesis an den eigenen Wahn, macht Melle diesen begreifbar, obwohl „es (…) da nichts Anschauliches [gibt]“. Den Buchpreis hätte sich Melle allemal verdient, eine möglichst große Leserschaft erst recht.