

Triumph des Geistes über das Gemüse
Klaus Nüchtern in FALTER 50/2013 vom 13.12.2013 (S. 33)
Erschütternd, erhebend, erheiternd: Wolfgang Herrndorfs Blog "Arbeit und Struktur" protokolliert dessen letzte drei Lebensjahre und liegt nun als Buch vor
Im Februar 2010 wird bei Wolfgang Herrndorf ein besonders bösartiger Hirntumor diagnostiziert. Heilungschancen: null; Lebenserwartung laut Wikipedia: durchschnittlich 17,1 Monate ab Diagnose.
Für den Abend plant der Schriftsteller gemeinsam mit seiner Freundin C. ins Kino zu gehen, davor entschließen sich die beiden zu einem Spontanbesuch bei einem Freund: "Bei Holm sind überraschend alle versammelt, und fast alle gehen auch nachher mit ins Kino, und es ist einer der schönsten Tage überhaupt. Auch einer der schönsten Filme. Ich lehne mich zu C. rüber und erzähle ihr, wie glücklich ich bin, und es ist keine Lüge."
Der Zustand hält naturgemäß nicht an. In seinem Blog, das ihm Freunde aus Anlass der Diagnose eingerichtet haben und das nun – knapp vier Monate nach dem Tod des Autors – auch in Buchform vorliegt, berichtet Herrndorf von seinem Kampf gegen die Krankheit mit all ihren physischen, psychischen, aber auch bürokratischen Begleiterscheinungen, von der Arbeit, von seinem Alltag in Berlin.
So erschütternd und deprimierend Herrndorfs Hinsiechen ist, so erheiternd nehmen sich manche der Episoden und Erlebnisse aus, die der Autor seinem Blog anvertraut. Den Beginn macht, am 8. März 2010, seine Einlieferung in die Psychiatrie. Der Patient trägt ein Pinguinkostüm. Als er durch das Panoramafenster einer Schulklasse ansichtig wird, sticht ihn der Hafer: "Mein Bedürfnis, unter Zucken und Schreien einen Zettel durchs Fenster hinunterzuwerfen, wächst: ,Hilfe! Ich bin nicht verrückt! Ich werde gegen meinen Willen hier festgehalten! Das mit dem Pinguin war nur ein Scherz (
)!'" Herrndorf lässt es schließlich doch sein: Die Fenster lassen sich nicht öffnen, und die Schüler würden den Witz ohnedies nicht kapieren.
Als man ihm das Todesurteil mit ungewissem Exekutionsdatum ausstellt, ist Herrndorf 44 Jahre alt und ein allenfalls mittelerfolgreicher Autor. Sein Romandebüt "In Plüschgewittern" (2002) wurde freundlich besprochen, sein Auftritt beim Bachmann-Wettbewerb 2004, wo er die Titelgeschichte seines drei Jahre später erscheinenden Erzählbandes "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" vorlas, trug ihm Lob vonseiten der meisten Juroren und den Publikumspreis ein.
Den Hauptpreis aber räumte Uwe Tellkamp mit seinem schwülstigen "Der Schlaf in den Uhren" ab, was Herrndorf auch sechs Jahre danach noch immer nicht einleuchten will: Es sei ihm schleierhaft, notiert er am 13. März um 16.15 Uhr, wie er "gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte".
Die zwischen Bewunderung und Bissigkeit schwankenden Bemerkungen über den Zustand der deutschen Literatur und des deutschen Literaturbetriebs zählen mit zum Vergnüglichsten, was man in diesem anrührenden und anregenden Lebens- und Sterbensprotokoll zu lesen kriegt. Das Urteil ist stets pointiert, meist nachvollziehbar, immer unterhaltsam. Martin Walser? "Der vielleicht senilste Sack der deutschen Literatur." Martin Mosebach? "Endgültig verrückt geworden." Daniel Kehlmann? "Wenn es ein Gegenteil von Aura gibt, schwebt es strahlend um Kehlmann herum."
Dabei ist Herrndorf eher generös als giftig. Dass Thor Kunkel und Joachim Lottmann sich nicht entblöden, den Hirntumor des Kollegen als Marketing-Trick zu entlarven, nimmt dieser ausgesprochen gelassen zur Kenntnis. Das ungnädige Urteil, das Volker Weidermann einst über Karen Duves Roman "Dies ist kein Liebeslied" fällte, lässt für Herrndorf allerdings nur den Schluss zu, dass sie dem FAS-Feuilletonchef "spätestens in den Neunzigern die Hauptplatine rausgelötet haben".
"Arbeit und Struktur", so der ostentativ unsentimentale und sachliche Titel des Blogs, berichtet auch davon, wie der Autor in kürzester Zeit die beiden Romane schreibt, die ihn berühmt machen sollten: "Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)", so ein Eintrag vom
13. März 2010 .
Während er sich einer Operation und einer Chemotherapie unterzieht und sich – Stichwort: "Exitstrategie" – einen Revolver besorgt ("Mit dem MacBook zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe"), schreibt Herrndorf den "auf den Tag genau" vor sechs Jahren begonnenen Roman "Tschick" in drei Monaten runter.
Mit dem Jugendbuch, das zwischen Castrop-Rauxel und Costa Rica zur Schullektüre avanciert, wird Herrndorf zum Bestsellerautor; erstmals hat er richtig Geld (das er nicht mehr ausgeben können wird). Als Gegenstück zu dem lebensfrohen Roadmovie wird ein Jahr später der nihilistische Wüstenthriller "Sand" herauskommen und dem Autor den Leipziger Buchpreis eintragen, für den schon "Tschick" nominiert war.
Damit ist das Pensum erfüllt. Zwei weitere Projekte, ein "Stimmenroman" und eine SF-Novelle, die von der bis zur Grausamkeit direkten Herrndorf-Freundin und -Lektorin Kathrin Passig als "reine Scheiße" abgetan wird, bleiben unvollendet.
Der Verfall schreitet rapide voran. Alkohol und Nikotin sind längst aufgegeben, der mit Hingabe betriebene Sport (Fußball, Schwimmen, Eishockey) wird auch immer schwieriger. epileptische Anfälle, Sprachausfälle, schließlich auch noch Unfälle – und dazu stets die enervierenden Ratschläge und Rettungsangebote von Esoterikern, Quacksalbern, Irren.
"Ich weiß, wie, ich weiß, wo, nur das Wann ist unklar. Aber dass ich zwei der Kategorien kontrolliere und die Natur nur eine – ein letzter Triumph des Geistes über das Gemüse", notiert Herrndorf im März 2011. Am 26. 8. 2013 erschießt er sich gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals.