

Als nachts Partisanen kamen, um die Kinder zu holen
Julia Kospach in FALTER 19/2010 vom 14.05.2010 (S. 18)
Von paranoiden Heerführern und grausamen Kindersoldaten: Wojciech Jagielskis exzellentes Buch über Ugandas Killing Fields.
In seinem Hotelzimmer im Acholi Inn, dem einzigen Hotel der kleinen nordugandischen Stadt Gulu, ringt der polnische Reporter Wojciech Jagielski um Worte. Er soll seinen nächsten Artikel schreiben und an die internationalen Medien schicken, für die er arbeitet. Uganda nennt er die "Killings Fields von Afrika", er schreibt von unvorstellbaren Grausamkeiten und Strömen von Blut. Dann bricht er ab, erschöpft von den überfrachteten Phrasen, in die er sich verstrickt hat. Stattdessen geht er hinaus in die schwarze Nacht und beschreibt, was er sieht. Nachts gehört Gulu den Kindern, die mit der Dämmerung aus den umliegenden Dörfern zum Schlafen in die Stadt kommen. Vor fremden Kindern hat man Angst in Norduganda. Beim Anblick einer Gruppe von Kindern lassen Feldarbeiter alles stehen und liegen, und Autos geben Vollgas. Man rechnet mit dem Schlimmsten, und sogar jene Kinder werden ängstlich beäugt, die in Gulu Schutz vor marodierenden Partisanenbanden suchen, die nachts Dörfer überfallen, morden, plündern und Kinder entführen.
Nach den kindlichen "Wanderern der Nacht" hat Wojciech Jagielski seine Reportage benannt. Im kriegsversehrten Norduganda lässt sich an ihrer Zahl der Stand des Krieges ablesen: "Wenn der Krieg im Acholiland abebbte, wurden die Wanderer der Nacht weniger. Kamen jedoch mehr von ihnen, bedeutete dies, dass sich wieder Partisanen in der Nähe gezeigt hatten." Mehr als 20 Jahre lang war Norduganda das Operationsgelände der "Lord's Resistance Army" von Joseph Kony.
Seine Armee ist das einzige fast reine Kinderheer der Welt, "das Krieg gegen Erwachsene führte und Verbrechen und Grausamkeiten beging, zu denen selbst diese nicht fähig gewesen wären", schreibt Jagielski. Derzeit operiert Kony, der seit 2005 mit einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gesucht wird, im Nordosten des benachbarten Kongo. Man schätzt, dass er seit der Gründung seiner Armee 1987 an die 30.000 Kinder entführen, verstümmeln oder töten ließ.
Kinder wie den 13-jährigen Samuel, dem Jagielski in Gulu in einem Heim für entflohene ehemalige Kindersoldaten begegnet. Als Neunjähriger von Partisanen, die kaum älter waren als er selbst, aus seinem Dorf entführt, musste Samuel gleich in der ersten Nacht im Busch einen anderen Buben aus seinem Dorf erschlagen. Tabubrüche wie dieser bilden die "scharfe, blutige Linie", die die geraubten Kinder von ihrer Vergangenheit abschneidet, ihnen die Rückkehr nachhause verunmöglicht und sie eingliedert ins brutale Regelwerk des Partisanenkampfs, in dem sie lernen, die selbst erlittenen Qualen übersteigert an andere weiterzugeben.
Jagielski, Jahrgang 1960, gehört zum Reporterteam der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza und schreibt in der Tradition von Ryszard Kapuscinski, dem Großmeister der literarischen Reportage, aus den Krisen- und Kriegsgebieten der Welt. Das bedeutet auch, dass manche seiner Figuren aus mehreren Menschen, denen er bei seinen Recherchen begegnet ist, zusammengesetzt sind.
Es bedeutet, dass Jagielski selbst mit seiner Wahrnehmung, seinen Gedanken, Ängsten und Zweifeln präsent ist, und es bedeutet, dass er die Abfolge der Ereignisse mitunter umdreht und der Authentizität der Atmosphäre unterordnet. Der literarische Fluss bestimmt die Erzählung. Das wird immer wieder kritisiert – gerade ist in Polen eine sogenannte Aufdeckerbiografie über den 2007 verstorbenen Ryszard Kapuscinski erschienen, die sich an diesem Thema aufhängt. Wirklich entscheidend ist aber, dass dieser Stil ungeheuer dichte, eindringliche Reportagen hervorbringt, deren Bilder in Erinnerung bleiben, die gleichermaßen aufklären über den Makrokosmos nationalen Geschehens wie über den Mikrokosmos individuellen Erlebens. Genau das tut Jagielskis exzellentes Uganda-Buch.
Es erzählt von den Kindersoldaten und ihren Schicksalen. Von der Auslöschung ganzer Gegenden. Von Treffen mit ugandischen Journalisten, die über die fatale Doppelrolle vieler Regierungen der Gegend – vor allem der des Sudan – berichten, die ihre Nachbarländer schwächen, indem sie deren Partisanengruppen auf ihrem Staatsgebiet Unterschlupf gewähren und sie als Gegenleistung gegen ihre eigenen Rebellen kämpfen lassen.
Jagielski lässt ugandische Tyrannen, Heerführer und Präsidenten der vergangenen 50 Jahre aufmarschieren – vom paranoiden Idi Amin, dem grausamen Kind im Körper eines riesenhaften Mannes, der einst Queen Elizabeth II. ein Telegramm mit dem Text "Liebe Liz, wenn du einen richtigen Mann treffen willst, dann komm nach Kampala" schickte, über dessen Vorgänger und Nachfolger Apollo Milton Obote und über Yoweri Kaguta Museveni, der sich vom Rebellen und Umstürzler zum hellsichtigen, demokratischen Landesvater wandelte und nach 20 Jahren an der Macht schließlich doch die Verfassung ändern wollte, um Präsident bleiben zu können.
Und dann waren da noch die, die sich als Propheten und Heerführer in einem sahen, zum Beispiel Alice Lakwena mit ihrer "Holy Spirit Army", die ihre Kämpfer
Psalmen singend in die Schlacht schickte, deren Gewehrkugeln angeblich Kreuze in der Luft beschrieben, bevor sie trafen, und die Bienen, Giftschlangen und Flüsse zu ihren Mitstreitern zählte. Jagielski erzählt von dörflichen Versöhnungsritualen, von der schwierigen Grenzziehung zwischen Tätern und Opfern, von den Geistern der Toten, die die Lebenden quälen. Aber er erzählt auch von der schönen hügeligen Stadt Kampala am Victoriasee, in der die Marabus nachts wie Wächter auf den stromlosen Straßenlaternen sitzen.