

Blechschaden und Blumenkohlröschen
Klaus Nüchtern in FALTER 12/2010 vom 26.03.2010 (S. 27)
Mit seinem Roman "Freelander" ist Miljenko Jergovic ein Roadmovie durch die Phantasmen Ex-Jugoslawiens gelungen
Spätestens mit seinem Opus magnum "Das Walnusshaus" (2008; im Original: 2003), das die Genese des jugoslawischen Bürgerkriegs im Krebsgang bis zum Ende des Osmanischen Reichs zurückverfolgt, gilt der 1966 in Sarajevo geborene und heute in Zagreb lebende Miljenko JergovicŽ als einer der herausragenden europäischen Erzähler. In seinem jüngsten Roman "Freelander" (2007) geht es dosierten Tempos (maximal 130 km/h!) nach Südosten, auf der Zeitachse aber in beide Richtungen.
Die Fahrt von Zagreb nach Sarajevo, die der pensionierte Karlo Adum in seinem orangen Volvo (Baujahr 1975, Originallackierung) unternimmt, führt ihn auch der eigenen Vergangenheit entgegen: zum einen, weil er seine Geburtsstadt schon als Schüler fluchtartig verlassen musste (die Gründe dafür erfahren wir relativ spät), zum anderen, weil während der Fahrt unwillkürlich Erinnerungen im Kopf des 66-jährigen Witwers wach werden: "Er hatte den Benzingeruch und den Schweiß von 50 Buben in der Nase und spürte 60 Jahre später noch den Hunger, verschimmeltes Brot und Einbrennsuppe mit zwei Kartoffeln für alle 50 Buben, Schweiß, an dem man die Dumpfheit dieser beschädigten Menschenjungen roch (
)."
Der Grund für diese ungeplante Fahrt ist die Eröffnung eines Testaments, das der längst totgeglaubte Bruder von Karlos Vater hinterlassen hat – die beiden hatten sich in blutigem Streit überworfen und nie mehr versöhnt.
Die Psychosomatik des Romans wird keineswegs von roadmoviemäßigem Gleichmaß, sondern von einer gewissen, immer wieder ins Hysterische kippenden Grundhibbeligkeit bestimmt. Die Fahrt in die eigene Vergangenheit ist von (literarisch eher nicht so geglückten) Albträumen, von Traumata und Horrorszenarien perforiert, und dass Karlo eine schnell noch über den Postboten organisierte Pistole mit sich führt, ist weder für das subjektive Sicherheitsempfinden des Protagonisten noch dasjenige des Lesers sonderlich hilfreich.
Verstärkt wird das Gefühl fahriger Nervosität noch durch einen Hang zum Verbosen, dessen Extreme sich zum einen in der stupiden Wiederholung eines Satzes während eines Fußballspiels ("Verflucht noch mal, der Brasilianer ist wie Mujo Danin aus Banovic") und zum anderen im aggressiv-gutgelaunten Gebrabbel eines Rezeptionisten manifestieren: "In Ihrem Alter bekommt man schnell eine Lungenentzündung, du niest zweimal und schon bist du weg. Das müssen Sie nicht haben."
Miljenko JergovicŽ ist ein begnadeter Erzähler, der aus dem Vollen schöpfen kann. Dort, wo mediokre Schriftsteller leere Kilometer machen und ihre Leser mit bleiernen Beschreibungen und drögem Detailreichtum quälen, setzt er seine Settings aus Ausstattungsstücken zusammen, die kaum je belanglos oder langweilig sind.
Mitunter neigt er aber buchstäblich zu einer gewissen Überinstrumentierung – etwa wenn er eine Autohupe mit den Blechbläsern einer Mahler-Sinfonie vergleicht. Auch die Assoziation von Nahrungsaufnahme mit Mord und Totschlag ist zu penetrant geraten: Da gemahnen nicht nur blutige Steaks an die Schlachten des Ersten Weltkriegs, sondern sogar die "Blumenkohlröschen" an die "aus dem Kopf geschossenen Gehirne kleiner Soldaten".
Völlig aus dem Ruder läuft der Wille zur körperlichen Saftigkeit dort, wo die Folgen eines Auffahrunfalls beschrieben werden: "Aus den vier breiten Schrammen gähnte hässlich wie die Cellulite am Hintern einer ehemaligen Schönheit das Blech."
Wenn die leidende Kreatur zunächst einmal für sich selbst steht und der Autor nicht allzu stark auf die Senftube der Symbolik drückt, gelingen aber Szenen von beeindruckender Bildgewalt – etwa im Falle einer verunfallten schwangeren Stute oder der Malträtierung eines Tanzbären während des erwähnten Fußballmatches. Und so sitzt der Leser dann doch gerne auf dem Nebensitz des Volvo, der durch eine Landschaft irrwitziger Verwerfungen und geklitterter Identitäten rumpelt.