

History-Fiction mit Dauerwelle
Alfred Pfoser in FALTER 41/2019 vom 11.10.2019 (S. 25)
In „Ruth Tannenbaum“ erfindet Meljenko Jergovič die Geschiche der kroatischen Shirley Temple neu
Der in Sarajevo geborene Miljenko Jergovič hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch im deutschen Sprachraum eine begeisterte Leserschaft geschaffen. Mit den Romanen „Das Walnusshaus“ und „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ sowie mit seinen Erzählungen ist er in die erste Liga der europäischen Literatur aufgestiegen. Auch „Ruth Tannenbaum“, wiederum wortgewaltig übersetzt von Brigitte Döbert, hat alle Ingredienzen einer literarischen Zauberei. Der angeblich erfolgreichste Roman Jergovičs ist ein bewegendes Stück Literatur, mit Passagen, Sätzen und Sprachbildern, die beim Lesen Freude auslösen. Und doch gelingt es dem Autor diesmal nicht ganz, mit seinen eigenen literarischen Meisterleistungen mitzuhalten, steht bei „Ruth Tannenbaum“ die überbordende Fantasie doch der Stringenz der Komposition im Weg.
Im Nachwort zu seinem Roman schreibt der bosnische Autor, dass ihn das Projekt, eine Biografie der vergessenen Schauspielerin Lea Deutsch zu schreiben, lange Zeit beschäftigt habe. Diese löste einst im Königreich Jugoslawien als Kinderstar Begeisterungsstürme aus und wurde als „kroatische Shirley Temple“ gefeiert. Als Hitler-Deutschland im April 1941 Belgrad bombardierte, Jugoslawien zerschlug und Kroatien als Ustascha-Vasallenstaat etablierte, wurde Deutsch aufgrund der übernommenen NS-Rassengesetze vom Theater ausgeschlossen. Im Mai 1943 starb sie während ihrer Deportation nach Auschwitz.
Sei es, dass der Autor zu wenige Dokumente zu Lea Deutsch fand, sei es, dass das Schreiben einer linearen Lebensgeschichte nicht zu seinem schriftstellerischen Temperament passt: Das Biografie-Projekt Lea Deutsch wurde begraben. Jergovič setzte der Schauspielerin auf andere Weise ein Denkmal. Mit „Ruth Tannenbaum“ hält er sich im Großen und Ganzen an die tragische Vita der Lea Deutsch und schert sich zugleich keinen Deut darum: Selbst die vorhandenen Daten und Fakten eines spärlich dokumentierten Lebens werden von seiner überbordenden Fantasie verwandelt. Jede Menge Anekdoten drängen in die Erzählung hinein. Und jede Menge Personen. Es herrscht ein ziemliches Getümmel im Roman. Die Eltern, die fernen Vorfahren in Galizien, die Nachbarn im Haus – sie alle bekommen die Gelegenheit, sich mit ihren Ängsten, Marotten und Neurosen einzubringen. Der beißende Humor sorgt für grelle Schminke. Der Erzähler liebt den drastischen Witz.
En passant wird jugoslawische Kultur- und Zeitgeschichte in den Roman gewoben: Die Veränderungen im Alltag (zum Beispiel die aufkommende Dauerwellen-Mode), die Konjunkturen des Theaterbetriebes werden ebenso verarbeitet wie die dramatische politische Geschichte im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit. Der Roman stellt der Zagreber Gesellschaft und ihrer High Society kein freundliches Zeugnis aus. Aus österreichischer Sicht kommt einem der Opportunismus, der die Stimmungen prägt, bekannt vor.
Langsam steigt in diesem Biotop die Bereitschaft zu Gewalt. Der katholische Antisemitismus nimmt Fahrt auf, bis in der Anpassung an Hitler-Deutschland jede Menschlichkeit verraten wird. „Gestern noch als Agramer austrophil und Großungarnfans, heute als Zagreber serbophil, Vorkämpfer der Königsbagage, Kriecher im Arsch von Belgrad.“ Am Ende tut sich der nette, fleißige Nachbar der Tannenbaums als KZ-Wärter im Konzentrationslager Jasenovac hervor. Es ist verständlich, dass das Buch, als es 2006 erschien, in Jergovičs neuer Wahlheimat Zagreb keine rechte Begeisterung auslöste. Zu schonungslos, zu kritisch war dessen Blick auf die kroatische Geschichte ausgefallen.
Der Roman erinnert an die gerne vergessenen Zeiten, als die Juden aus den Berufen und dem öffentlichen Raum eliminiert wurden, als die Nachbarn im Haus oder die Kollegen am Arbeitsplatz einfach wegschauten. Oder noch schlimmer: als sie in der neuen „Unabhängigkeit“ Karrieremöglichkeiten witterten, sich brav an der behördlich verlangten Denunziation beteiligten und die Verbrechen kleinredeten.
Aber auch die bedrohte jüdische Minderheit wird im Roman kritisch-satirisch beäugt. Die Tannenbaums, eine typisch assimilierte jüdische Familie, wollen die sich abzeichnende Vernichtung einfach nicht wahrhaben und lassen ihrer Neigung zur Verdrängung, zu Illusion und Angstabwehr freien Lauf. In Jergovičs bitter-ironischer Analyse sind da lauter Angsthasen und Träumer am Werk. Nur der schräge, senile Großvater macht eine Ausnahme.
Bisweilen überfrachtet das Füllhorn der Fantasie den Plot, werden Geschichterln erzählt, die ganz schön weit wegführen und etwas gezwungen wirken. Wäre eine nüchternere, dokumentarisch arbeitende Methode diesem Stoff nicht doch angemessen gewesen? Salomon Tannenbaum, Ruths Vater, ist ein Hasenfuß durch und durch, und der soll in den Kaschemmen der Vorstadt eine wilde Doppelexistenz geführt haben? Milenko Jergovič macht dies wohl deshalb, weil er die Leserschaft nonstop mit Schnurren unterhalten will.
Das Ende gestaltet der Autor als düstere Provokation. Die junge Ruth Tannenbaum träumt sich weit weg in die Unsichtbarkeit, fantasiert sich in die Rolle einer amerikanischen Schauspielerin, die Hitler betört, hinschmelzen lässt und damit die Welt rettet: Der Führer „konnte den Blick nicht von den riesigen Augen wenden, den größten, dunkelsten, die er je gesehen hatte und in denen er ertrank wie in einem kalten Alpensee“. Dann der letzte Satz: „Zwei Bewaffnete warteten, an den Mercedes gelehnt, dass Ruth sie bemerke.“