

Die Liebe, die Freiheit und der Widerstand
Nikolaus Stenitzer in FALTER 41/2012 vom 12.10.2012 (S. 35)
Zusammenleben: Kann Polyamorie, die Liebe zu vielen, eine Alternative zur freien und romantischen Liebe sein?
Polyamorie ist die "Liebe zu vielen". Der Begriff wird in Abgrenzung sowohl zur "freien Liebe" mit promiskuitivem Schwerpunkt als auch zur "romantischen Liebe" mit Exklusivitätsanspruch verwendet und bezeichnet das verantwortungsbewusste, "ethische" Nebeneinander verschiedener, meist gleichwertiger Liebesbeziehungen.
Was das konkret bedeuten soll, war seit Beginn der 1990er-Jahre Gegenstand so verschiedener Debatten wie Veröffentlichungen. In den USA wurde Polyamorie einerseits als feministische Strategie gegen das vordergründige – aber tatsächlich vor allem für Frauen verbindliche – Monogamiegebot in Stellung gebracht.
Gleichzeitig existierte von Beginn an eine starke esoterische Strömung der "spirituellen" Polyamorie. Im deutschsprachigen Raum wird sie zunächst vor allem als Bezeichnung für ein "widerständiges", antinormatives Beziehungs- und Sexualleben verwendet, wurde sie etwa ab Mitte der 2000er-Jahre dann sowohl in den Feuilletons großer Zeitungen als auch in Gestalt verschiedener praktischer Ratgeber einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Im Stuttgarter Schmetterling Verlag, der schon 2010 in seiner Reihe theorie.org einen Band zum Thema veröffentlicht hat, ist nun das Buch "Die andere Beziehung. Polyamorie und Philosophische Praxis" von Imre Hofmann und Dominique Zimmermann erschienen. Eine "universelle Beziehungsethik" möchten die Philosophen vorstellen, ein "intellektuelles Instrumentarium", das "in kniffligen Entscheidungssituationen als Orientierungshilfe" dient.
Hofmann und Zimmermann weisen zwar etwa darauf hin, dass die "romantische Liebe" mit ihrem Exklusivitätsanspruch erst in der Neuzeit erfunden worden sei, und berufen sich mit Michel Foucault und der Queer Theory auf die punktuelle Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Realität. Als Argument für die "andere Beziehung" gilt aber dann recht schlicht, dass sie zeitgemäß sei: Der individualisierte Mensch sei mit dem romantischen Exklusivitätsanspruch überfordert, und außerdem werde dieser einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr gerecht.
Adaption statt Subversion: Dazu passen auch die auffällig häufigen positiven Bezüge auf Familie und Familienleben.
Das "Instrumentarium" reiht sich vollends in die Ratgeberliteratur ein: Ehrlich und rücksichtsvoll sollen die Menschen miteinander sein und offen und ausführlich kommunizieren. Dass am Ende keine reaktionären Malheurs passieren, wird vertraglich verhindert: So sollen "gewisse mit tradierten Geschlechterrollen einhergehende Beziehungskonstellationen von vornherein unmöglich" werden, wenn die übereinkünftige Beziehungsethik "Respekt vor dem anderen" einfordere.
Polyamorie 2012, könnte man schließen: Das Leben wird immer einfacher. Schön wär's.