
Eine Hörbuch so weit wie Russland
Kirstin Breitenfellner in FALTER 22/2010 vom 02.06.2010 (S. 21)
Krieg und Frieden" von Lew Tolstoi (1828–1910) gilt neben dessen "Anna Karenina" immer noch als der Inbegriff des realistischen Romans. Seine gut eineinhalbtausend Seiten über die dunklen und hellen Seiten des Menschseins in den Jahren 1805 bis 1812, die von Tolstois Frau Sofja siebenmal abgeschrieben worden sein sollen, bevor sie erstmals 1868/69 erschienen, erzählen von gut 250 Figuren, verwickelt durch Liebesgeschichten und Kriegsgemetzel, mit denen Napoleon, der Usurpator, ganz Europa überzog und die der greise russische General Kutusow mit der subversiven Taktik des Rückzugs beantwortete – allen voran der smarte, erfolgreiche Fürst Andrej Bolkonski und die quirlige Natascha Rostowa, der ungeschickte, aber tiefgründige Pierre Besuchow, der hitzköpfige Nikolai Rostow und die sanfte Prinzessin Marja.
Nun ist das Monumentalwerk, gelesen von Ulrich Noethen, auf sage und schreibe 54 CDs erstmals in ungekürzter Hörfassung erhältlich. Zu einem Schnäppchenpreis bekommt man es naturgemäß nicht, aber es gibt ja schließlich auch Bibliotheken. Man soll sich also von all den Superlativen nicht abschrecken lassen, sondern sich nach Erwerb oder Ausleihung ganz auf Tolstois stupende Erzählkunst einlassen, die durch die Kürze der Kapitel leicht zu konsumieren ist und von der ersten CD an in den Bann zieht, wo Pierre Besuchow, aus dem Ausland zurückkehrend,
in die hohe Gesellschaft eingeführt wird.
Tolstoi widmet sich den kleinsten Details mit der gleichen Liebe wie den großen philosophischen Bögen, er ist Psychologe, Geschichtsphilosoph und gleichzeitig immer ganz nah an den Dingen, überrascht mit Beobachtungen, die heute noch so feinsinnig und frisch wirken wie vermutlich damals, als er sie niederschrieb. Es lohnt sich unbedingt, durchzuhalten bis zum Schluss, zum Epilog, einem Kabinettstück der Literaturgeschichte, das sieben Jahre später eine Bestandsaufnahme der politischen Lage mit der Andeutung des nahenden Dekabristenaufstands vorlegt sowie der am Ende des Romans geschlossenen Ehen mit aller realistischen Desillusionierung, aber ohne Dekonstruktion derselben.


