
Gegen die Ungeheuer der Zeitgeschichte
Michael Omasta in FALTER 43/2017 vom 25.10.2017 (S. 29)
Marcel Ophüls ist der bedeutendste lebende Dokumentarfilmer der Welt. Nun feiert er seinen 90. Geburtstag
Es gibt diese ziemlich komische Szene in „Der Stadtneurotiker“, in der Woody Allen vorschlägt, ins Kino zu gehen, und Diane Keaton dankend ablehnt: „Ich bin jetzt nicht dazu aufgelegt, mir einen vierstündigen Dokumentarfilm über die Nazis anzuschauen.“
Bei der überlangen Doku, von der hier die Rede ist, dachte Allen an die Filme von Marcel Ophüls, der sich als Regisseur überlanger Dokus über die Schrecken des 20. Jahrhunderts einen Namen gemacht hat. Damals, 1977, lief aktuell gerade „The Memory of Justice“ in den US-Kinos, Ophüls’ groß angelegte Studie über die Nürnberger Prozesse und ihre Lehren in Anbetracht der unzähligen seither begangenen Kriegsverbrechen in aller Welt, nicht zuletzt in Algerien und in Vietnam.
Ophüls’ panoramatisches Geschichtsverständnis stieß seit jeher auf erbitterten Widerstand. Bei jedem Film lieferte er sich hunderte Scharmützel mit Fernsehbürokraten und Politbonzen, um sein Werk tatsächlich durchzusetzen. „Memory of Justice“ beispielsweise wurde vom ZDF gekürzt und neu geschnitten. Und noch in den 1990ern wollte Arte – der Kultursender, ach! – den Film lieber nur „unter Ausklammerung der Teile über den Vietnam-Krieg“ zeigen.
Dabei träumte Marcel Ophüls anfangs von einem Kino, wie es sein Vater, der geniale Max Ophüls gemacht hatte: Filme von schwebendem Wiener Flair, mit schönen Frauen und großen Gefühlen, von „Liebelei“ bis zu „La Ronde“.
Marcel, nach eigener Mutmaßung in Wien gezeugt, wird 1927 als Sohn der Schauspielerin Hilde Wall und des Regisseurs Max Ophüls in Frankfurt geboren. Er wächst in Deutschland, ab 1933 in Frankreich und schließlich in den Vereinigten Staaten auf. Ende der 1940er-Jahre kehrt er nach Paris zurück, wo er als Assistent „von Papa“ beim Film zu arbeiten beginnt.
Nach dessen Tod heuert Ophüls jr. – als Marcel Wall – beim deutschen Fernsehen an. Sein Kinodebüt „Liebe mit zwanzig“ (1962), ein Beitrag zum Episodenfilm, verdankt er den Jungfilmern der Nouvelle Vague, insbesondere der engen Freundschaft mit François Truffaut. Es folgt „Peau de banane“ mit Jean-Paul Belmondo und Jeanne Moreau, doch nach dem Flop des Eddie-Constantine-Vehikels „Ab heute wieder Niederschläge“ realisiert er 1967/68 mit „Hundert Jahre ohne Krieg. Das Münchner Abkommen von 1938“ seine erste dokumentarische Recherche.
Clermont-Ferrand während des Zweiten Weltkriegs ist Schauplatz von „Das Haus nebenan“ (im Original: „Le chagrin el la pitié“). Vor der deutschen Besetzung zeigte sich der Pétainismus hier in höchst authentischer Form: Antisemitismus, Kollaboration und Widerstand, beides weiß Ophüls anhand dieser Stadt exemplarisch darzustellen, auch die typische Haltung der Durchschnittsfranzosen, die zwischen den Fronten lavierten.
Der Viereinhalbstünder, der mit dem Mythos, jeder Franzose sei praktisch Widerstandskämpfer gewesen, aufräumt, gerät zum nationalen Skandal. Simone Veil, die prominente Auschwitz-Überlebende, fordert ein Verbot dieses „anti-französischen“, die „Résistance verächtlich“ machenden Films (und tatsächlich wird es zehn Jahre dauern, bevor das staatlic he Fernsehen ihn ausstrahlt). Ophüls indes feiert den größten Triumph seiner Karriere, inklusive erster Nominierung für einen Oscar. Den erhält er 1988 für „Hôtel Terminus“, einen Film über Klaus Barbie, den Schlächter von Lyon.
Dokumentarisches ist bei Ophüls stets mit Subjektivem verknüpft, mit „persönlichen Erlebnissen oder persönlichen Wutanfällen oder persönlichen Witzen“, wie er anlässlich der Premiere seines letzten Meisterwerks über „Die Geschichte der Kriegsberichterstattung“ anno 1994 im Falter erzählt hat. „Video-Clips und Reality-Shows sind halt unsere Feinde. Wir wissen, dass das Kino untergeht, weil die Objektivitätsamateure und die Objektivitätsheuchler das Bild und den Ton übernommen haben. Um dagegen zu kämpfen, muss man individualistisch kämpfen, mit eigener Erinnerung.“
So beschreibt jeder Ophüls-Film auch eine Reise durch die Geschichte seiner Familie und die der US-amerikanischen Populärkultur, insbesondere das Kino und die Musik der 1930er: Fred Astaire, Fats Waller, Cole Porter, Ernst Lubitsch und die Marx Brothers treten gegen die Ungeheuer der Zeitgeschichte an, die Ophüls als Interviewer ebenso respektlos wie schlagfertig vernimmt – manchmal, wie im Fall von Barbies ehemaligem Leibwächter, auch im Bademantel.
„In seinen Filmen“, schreibt Ralph Eue, der deutsche Dokumentarfilmkenner und Herausgeber von Ophüls’ Werken auf DVD, „haben sich die Tugenden des investigativen Journalismus virtuos mit der Kunst des großen Kinos verbunden.“ Am 1. November wird Marcel Ophüls, der bedeutendste lebende Dokumentarfilmer der Welt, 90 Jahre alt.


