

„Man muss hier vorsichtig sein“
Gerlinde Pölsler in FALTER 1-2/2016 vom 15.01.2016 (S. 44)
Der Interkulturalitätstrainer und einstige Flüchtling Fred Ohenhen über lautes Reden, Armlängen und warum er nigerianischen Landsleuten heute abrät, nach Europa zu gehen
Fred Ohenhen ist in der Steiermark etabliert: Im November erhielt der gebürtige Nigerianer, der vor gut 25 Jahren nach Österreich kam, den Josef-Krainer-Heimatpreis für Integration. Als Erfinder des Projekts „IKU“ bei der NGO ISOP arbeitet er pro Jahr mit etwa 6000 Kindern und Pädagoginnen, Richtern und Polizistinnen an interkultureller Verständigung. Kürzlich gab er seine Biografie „Ein Leben. Zwei Welten“ heraus, zur Präsentation im ORF-Landesstudio erschien zahlreiche (Polit-)Prominenz.
In dem Buch erzählt Ohenhen von seiner Kindheit bei Benin City in Nigeria, seiner Arbeit als Englischlehrer und davon, wie er das Land nach der Teilnahme an einer Demonstration verlassen musste. Von Österreich gibt es rassistische Ansagen ebenso zu berichten wie die Hilfsbereitschaft zahlreicher Menschen, dank deren er in den ersten Jahren Fuß fassen konnte. Mit viel Humor erinnert Ohenhen sich an zahlreiche Missverständnisse: Wie er mit seinen Schwiegereltern in Boxershorts zum Wandern ausrückte, weil er meinte, man müsse dabei jedenfalls kurze Hosen tragen. Wie seine Frau, eine gebürtige Österreicherin, einmal dachte, er wolle seiner auf Besuch weilenden Schwester etwas antun, weil es so laut herging – dabei unterhielten die beiden sich nur angeregt. Auch dass Menschen oft irritiert waren, weil er ihnen nicht in die Augen schaute – in Nigeria ein Gebot des Respekts. In seinen Kursen vermittelt Ohenhen Sensibilität für solche Unterschiede, wichtig ist ihm aber auch, „nicht nur auf die Differenzen zu schauen, sondern auch auf das Verbindende.“
Fred Ohenhen: Herr Ohenhen, Sie schreiben, spätestens nach zwei Wochen in Nigeria bekommen Sie Sehnsucht nach Österreich, und wenn Sie zurückkommen, brauchen Sie wieder Zeit zum Eingewöhnen.
Was vermissen Sie an Nigeria, was umgekehrt?
Ohenhen: Ich bin eigentlich laut, lache laut, in Nigeria ist das normal. Wenn ich nach Österreich zurückkomme, merke ich schon am Flughafen die Blicke. Man muss hier vorsichtig sein. In Nigeria kann ich auch einfach bei jemandem vorbeikommen, ohne vorher anzurufen. Das ist schön, nach einer Woche aber haben die Leute keine Zeit mehr für mich. Dann bin ich allein und denke an meine Familie und Freunde und an meine Arbeit in Graz. Ich war auch nie gewohnt, dass zu Hause so wenige Menschen sind. Immer hatte ich zehn, zwölf Leute um mich. In Graz komme ich oft nach Hause, meine Frau ist nicht da, die Kinder sind nicht da, und ich denke: Poah. Daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen.
Und was vermissen Sie umgekehrt?
Ohenhen: Wenn ich länger in Nigeria bin, vermisse ich die Ruhe und Rückzugsmöglichkeit, die ich in Graz habe, und das Gefühl der Sicherheit, wenn ich mich abends auf den Straßen bewege. Außerdem gibt es in Österreich keinen Stromausfall und keine Moskitos …
In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Ihr Vater sich eine Zweitfrau nahm und Ihre Mutter extrem darunter litt. Es war auch klar, dass er der Verdiener und Chef der Familie war. Sie dagegen sind in Österreich in Väterkarenz gegangen, Ihre Frau hat das Geld verdient. Wie ging es Ihnen damit?
Ohenhen: Das mit der Gleichstellung hier habe ich gleich kapiert. Meine Frau und ich lebten ja schon vor unserer Hochzeit zusammen, sie hat mich unterstützt und immer mehr verdient als ich. Aber es war schon hart für mich. Wenn ich in Nigeria mit einer Frau fortgehe, ist klar, dass ich zahle. Wenn meine Freundin zum Frisör geht und nicht arbeitet, verlangt sie von mir das Geld. Und dann in Österreich zahlte sie die Miete, und als das Kind kam, musste ich sagen: Weißt du was, ich habe keinen Job, ich gehe in Karenz. Ich habe eine Zeit gebraucht, bis ich das meinen Leuten in Nigeria erzählt habe, weil ich mich geschämt und irgendwie als Versager gefühlt habe.
In Nigeria, sagen Sie, gewinnt man mit jedem Lebensjahr an Respekt und Autorität. Europa muss da ein starker Kontrast sein.
Ohenhen: Ja, viele hier schenken älteren Menschen wirklich nicht so viel Respekt. Ich habe das auch nicht gekannt, dass Kinder mich mit Vornamen ansprechen. Mir ist lieber, sie sagen „Bruder Fred“. Es ärgert mich auch, wenn jemand nicht grüßt. Wo ich geboren bin, ist Grüßen in der Früh sehr wichtig. Der Jüngere grüßt den Älteren. Nach dem Essen muss ich meinen Eltern Danke sagen. Es bringt einen weiter, wenn man respektvoll ist und Danke und Bitte sagt. Das gebe ich auch an meine Kinder weiter.
Auch Sie waren als Asylwerber in Traiskirchen, auch damals, 1989, mussten Leute im Freien vor der Unterkunft schlafen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie nun die Bilder hunderttausender Flüchtlinge sehen?
Ohenhen: Ich bemitleide diese Menschen und frage mich, was ich tun kann. Ich möchte ein, zwei Leute suchen, die ich begleiten und denen ich helfen kann. Ich weiß, was es für einen Menschen aus Afrika heißt, im Winter nach Europa zu kommen. Ich bin damals im April gekommen und mir war viel zu kalt. Und damals war alles noch ein bisschen leichter, aber heute sind die Chancen sehr gering, dass man Fuß fasst.
Sukkus Ihres Buchs ist, dass Ihre Fluchtgeschichte geprägt war von Menschen, die Ihnen immer wieder weitergeholfen haben, und von vielen glücklichen Zufällen. Hätte es für Sie auch ganz anders ausgehen können?
Ohenhen: Ja. Ich hatte wirklich sehr viel Glück, weil ich immer Menschen hatte, die für mich da waren und mich als Fred wahrgenommen haben. Aber ich wäre beinah illegal ausgereist. Ich hatte einen Platz an einer Universität in den USA, aber kein Visum. Da war mein Cousin bereit, nach Österreich zu kommen und mir einen Pass zu geben, damit ich nach Amerika fliegen könnte. Freunde sagten mir dann: Mach das nicht, wenn sie dich erwischen, können wir dir nicht mehr helfen. Aber ich war nah dran. Weil ich hier keine Chancen gesehen habe. Es gab eine Zeit, wo mir alles egal war. Und wenn man dann einsam ist und keinen Ausweg mehr sieht, dann denkt man viele Sachen.
Es wird nun viel über Obergrenzen und über eine Unterscheidung zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen diskutiert. Wie sehen Sie das?
Ohenhen: Ich verstehe diese Diskussionen. Aber jeder Mensch hat das Recht, dass es ihm gut geht. Afrika hat etwa 16 Prozent der Weltbevölkerung, aber nur zwei bis drei Prozent vom Welteinkommen. Solange es solche Ungleichheiten, Kriege und Armut gibt, werden Menschen weggehen. Weil sie glauben, sie hätten in Europa ein besseres Leben. Dass hier auch eine Wirtschaftskrise herrscht, wissen oder glauben sie nicht. Ich würde den Leuten heute abraten.
Ja? Haben Sie das schon getan?
Ohenhen: Immer, wenn ich nach Nigeria fahre, sagen Leute: „Fred, mein Sohn, der möchte auch ...“ Ich sage dann, dass ich niemandem helfen kann und die Lage wirtschaftlich kritisch ist. Man soll versuchen, zu Hause Fuß zu fassen, wenn es irgendwie geht. Ich kann natürlich nicht sagen: „Geh nicht.“ Das stünde mir nicht zu.
Und Leuten, die schon hier sind, was raten Sie denen?
Ohenhen: Die Sprache zu lernen. Wenn man dazu in der Lage ist, weil dazu muss man seine eigene Sprache gut beherrschen. Wenn man Analphabet ist und nicht in der Schule war, ist das schwierig. Das vergisst man oft, dass Schulbildung ja nicht überall auf der Welt für jeden zugänglich ist. Wichtig ist, offen und lernbereit zu sein und auf Leute zuzugehen. Und: Dass man den Familien zu Hause auch mal sagen kann: „Tut mir leid, ich kann euch jetzt kein Geld heimschicken.“ Viele Migranten stehen da unter so großem Druck, dass sie unter Umständen auch etwas Illegales tun. – Umgekehrt vermisse ich Informationen, was den Menschen hier wichtig ist, auf welchem Grundkonsens das Zusammenleben hier beruht.
Wie sollten diese Infos aussehen?
Ohenhen: Man sollte wissen, wie man hier lebt, was die Gesellschaft von einem verlangt. Wenn jemand dort, wo er geboren ist, einer Frau nicht die Hand gibt und hier keine Kontakte hat, dann tut er das vielleicht auch hier immer. Aber wenn man den Leuten sagt, dass Frauen sich dann nicht wohlfühlen, werden sie es tun. Die meisten jedenfalls. Genau so etwas mache ich auch in meinen Seminaren. Aber die Information allein ist natürlich nicht genug, man muss im Austausch mit anderen stehen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede wahrzunehmen und sein eigenes Verhalten hinterfragen oder adaptieren zu können.
Die Wertekurse von Außenminister Sebastian Kurz halten Sie also für sinnvoll?
Ohenhen: Na ja, vom Ansatz her … Es ist zumindest ein Anfang und ich finde schon lange, dass man das in den Deutschkurs einbauen soll. Man muss diese Sachen lernen! Es sind oft nur Kleinigkeiten, die zu Konflikten führen. Zum Beispiel mit dem Abstand, den man halten soll. Hier sagt man: eine Armlänge. In Nigeria oder in Brasilien kommt man sich nah, man greift den anderen sogar an. Wenn man das hier macht, heißt es plötzlich: „Wissen Sie was, gehen Sie einen Schritt zurück.“ Dann denkt man: Äh? Solche Dinge sind wichtig, wenn man hier leben möchte. Aber noch besser als in Kursen lernt man das alles über Kontakte. Patenschaften finde ich eine gute Idee.
Stichwort „eine Armlänge“. Nun werden heftig die sexuellen Übergriffe auf Frauen, angeblich vorwiegend durch Gruppen von Migranten, diskutiert – eine hierzulande neue Form von sexueller Gewalt. Offenbar betrachten die Täter Frauen als Freiwild. Eine Werteschulung wird da wohl nicht reichen – was kann man tun?
Ohenhen: Diese Taten sind abscheulich! Es gibt Gesetze, die für alle gelten, sowohl für In- als auch für Ausländer – man muss die Täter strafrechtlich verfolgen und diese Art von Kriminalität mit allen Mitteln bekämpfen! Wir dürfen nicht zulassen, dass Angst und Verunsicherung die Gesellschaft spalten.
Sie sind nun seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Österreich und haben am eigenen Leib einiges an Rassismus erlebt. Was hat sich da verändert?
Ohenhen: Es ist sehr viel besser geworden, sonst wäre die ganze Arbeit, die wir NGOs machen, ja umsonst. Andererseits hätte ich auch nicht gedacht, dass eine Frau mir im Jahr 2013 sagt, sie gibt mir nicht die Hand.
Sie meinen die Tagesmutter, die bei Ihnen in der Schulung war.
Ohenhen: Ja. Andererseits hätte ich 2011 auch nicht damit gerechnet, dass die Grazer mich zum Grazer des Jahres wählen und ich 2015 den Josef-Krainer-Heimatpreis verliehen bekomme! Die Menschen anerkennen also, dass diese Stadt meine Heimat geworden ist. Es ist also viel besser geworden, auch wenn ich noch immer blöd angesprochen werde, aber das kommt wohl auch bei Frauen vor, wenn sie am Abend fortgehen. Es gibt eben überall Deppen. Genug Deppen in Nigeria, genug in China, und ein paar gibt es auch in Österreich. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel.
„Alles, was wir tun, wird ein Teil von uns“, zitieren Sie ein nigerianisches Sprichwort. Was geben Sie von Ihren nigerianischen Wurzeln, von Ihrem Lebensweg zwischen zwei Kontinenten an Ihre Töchter weiter?
Ohenhen: Da muss ich sehr aufpassen, weil meine Kinder ja hier leben. Ich will sie zu nichts zwingen. Es gibt Sachen, die ich nach wie vor nicht gutheißen kann. Meine Tochter ist 19 und wenn sie zu ihrem Freund geht, sagt sie zum Beispiel: „Ich schlafe heute beim Flo.“ Meine Frau sagt dann: „Sei froh, dass sie dich überhaupt fragt!“ Aber sie hat mich nicht gefragt, sie hat mich informiert. Dann sagt die kleine Tochter, die ist 16: „Papa – sie ist 19!“ Ich akzeptiere das. Ich habe da eh keine Chance. Aber etwas Nigerianisches in meinem Kopf macht immer Klick. (Lacht.) Ich habe zwei Heimaten. Das ist schön, aber es ist nicht immer einfach.