

Vom Karl-Marx-Hof nach Harvard
Lina Paulitsch in FALTER 28/2024 vom 12.07.2024 (S. 16)
Lotte Bailyn blickt auf die Uhr und ruft: "Oh my goodness!" Sie müsse packen, erklärt sie erschrocken, in wenigen Stunden hebe ihr Flieger ab. Dann lacht die knapp 94-Jährige. "Wer in Erinnerungen schwelgt, vergisst auf die Zeit!"
Zur Präsentation der Memoiren ihrer Mutter ist Lotte Bailyn nach Wien gereist. In einem Wiener Innenstadthotel erzählt sie von ihrer Kindheit und der Familie. Es wird auch ein Gespräch über sie selbst und ihre eigene Forschung werden. "Mit berühmten Eltern ist es schwer, die eigene Stimme zu finden. Beide waren wunderbare Redner, sie dominierten jede Gesprächsrunde", sagt Bailyn. "Ich war immer anders - ruhiger, eher im Hintergrund." Doch schon lange messe sie sich nicht mehr an ihnen, sagt sie, so sei das Leben leichter.
Die Eltern, das sind Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld - ihrerseits Sozialwissenschaftler und prägende Intellektuelle im Wien der Zwischenkriegszeit. Ihre gemeinsame Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von 1933 ist weltberühmt. Die empirische Forschungsarbeit zu den psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit ist heute noch Pflichtlektüre für jeden Studieneinsteiger.
Immer wieder reist Bailyn, geborene Lazarsfeld, in ihre Wiener Heimat, um klassische Musikkonzerte zu besuchen oder Ehrungen entgegenzunehmen. "Marie Jahoda -Rekonstruktionen meiner Leben" erschien in der Edition Konturen, auch Bailyn steuerte einen Essay bei. Anhand der Frauen ihrer Familie schildert sie verschiedene weibliche Karrierepfade. Sie selbst ist emeritierte Professorin am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und in den USA eine bekannte Sozialpsychologin. Schwerpunkt: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Feministisch war dagegen Jahodas Selbstverständnis, als Akademikerin zu reüssieren. Der Tochter lebte sie vor, auf jeden Fall zu studieren -in den 1960ern eher die Ausnahme. "Meine Mutter lehrte mich, alles schaffen zu können."
"Meine Mutter hat sich wissenschaftlich nie für Geschlechterthemen interessiert, darin unterschieden wir uns", sagt Bailyn. "Sie sagte immer, sie habe keine Probleme als Frau gehabt." Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld hatten beide jüdische Vorfahren. Sie wuchsen in Wiener Intellektuellenfamilien auf, im Dunstkreis von Sigmund Freud und Karl Kraus. Schon Bailyns Großmutter, Sofie Lazarsfeld, war autodidaktische Psychoanalytikerin, arbeitete in der Wiener Eheberatungsstelle und schrieb in den 1920ern eine Kolumne für die Wiener Zeitung. Die andere Großmutter, Betty Jahoda, bestand darauf, ihren Töchtern die gleiche Bildung wie ihren Söhnen zu ermöglichen. In ihrem Haus betreute sie Frauen, die sich nach einer Abtreibung erholten.
Mit 19 Jahren heiratete Marie Jahoda den damals 25-jährigen Lazarsfeld. Es war eine Liebeshochzeit, romantisch und leidenschaftlich, wie in ihren Memoiren zu lesen ist. Doch ihr Gatte war "für die Monogamie nicht geschaffen", er hatte zahlreiche Affären. 1930, da war Jahoda 23, kam ihre einzige Tochter Lotte zur Welt, wenig später trennte sich das Paar.
Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Bailyn in einer Wiener Gemeindewohnung im Karl-Marx-Hof. "Wir waren oft im Prater", erzählt sie. "Ich erinnere mich vor allem ans Essen: an Schokoladeeis und Würschtel." Sie war viel bei der Großmutter und den Cousins. Die Mutter war mit 25 nicht nur eine der jüngsten Doktorinnen des Landes, sondern auch politisch für das Rote Wien aktiv. Jahoda wäre gerne als Bildungsministerin angetreten.
Doch der Austrofaschismus setzte ihrer Karriere in Österreich ein Ende. Nachdem im März 1933 Bundeskanzler Dollfuß das Parlament ausschaltete, wurde die Sozialdemokratische Partei verboten. Jahoda trichterte der kleinen Lotte ein, nicht mehr die Internationale zu summen. Für ihre politische Arbeit ging sie in den Untergrund. Bailyn schreibt über ihre Mutter: "Sie akzeptierte nichts, weigerte sich, sich an Traditionen zu halten, und beteiligte sich mit Begeisterung an den reformerischen Kämpfen ihrer Zeit."
Die Austrofaschisten sperrten Marie Jahoda für neun Monate ins Gefängnis. Freiheit erlangte sie nur unter der Bedingung, das Land zu verlassen. 1937 emigrierte sie nach England. "Das stellte sich als großes Glück heraus", sagt ihre Tochter heute. "So entkam meine Familie den Nazis." Die siebenjährige Lotte kam einstweilen zu ihrem Vater. Lazarsfeld war nach einem Forschungsaufenthalt in den USA geblieben und lebte mit einer neuen Frau in New York City.
Er war ihr ein Fremder, erzählt Bailyn, sie hatte ihn das letzte Mal mit vier Jahren gesehen. Während der Überfahrt auf dem Atlantikdampfer habe sie Angst bekommen, Angst vor dem Sprachverlust. Sie fürchtete, der Vater könnte plötzlich aufhören, Deutsch zu sprechen -und sie würde niemanden verstehen.
"Es war sehr hart für uns alle", sagt sie. "Meine Stiefmutter, die arme Frau, hatte selbst keine Kinder und musste sich um mich, ein 'cranky child', ein grantiges Kind, kümmern. Es wurde besser, als ich älter war."
Erst 1945, acht Jahre später, kam ihre Mutter nach Amerika. Lotte war mittlerweile 15 und sprach Englisch. "Ich denke, sie hat lange gebraucht, bis sie mich ganz akzeptieren konnte. Aber nach und nach kamen wir uns näher", schreibt Jahoda in ihren Memoiren, in denen sie sich auch als "Versagerin als Mutter" bezeichnet. Später besserte sich das Verhältnis.
Marie Jahoda war es im Exil gelungen, an ihre akademische Karriere anzuknüpfen. 1938 erhielt sie ein Stipendium in Cambridge, ab 1940 arbeitete sie als Soziologin im Informationsministerium der britischen Regierung. Wie in Wien packte sie der politische Furor: Um im Zweiten Weltkrieg etwas zu bewirken, blieb sie in England. "Wir rennen nicht vor Europa davon, in einem Moment wie diesem", schrieb sie 1940 in einem Brief an einen Freund.
Von England aus versandte sie sozialistische Nachrichten ins besetzte Österreich, für den Propagandasender Radio Rotes Wien. "Es war die arbeitsintensivste Zeit meines Lebens", schreibt Jahoda, "aber ich glaube nicht, dass wir viele Menschen erreichten." 1943 wurde der Sender eingestellt.
In den USA lebte sie erst bei ihrem Bruder, dann, ab 1947, mit ihrer Tochter in einem Appartement in New York. Nach nur sechs Wochen fand sie einen neuen Job als Forschungsassistentin von Max Horkheimer im American Jewish Comitee. Sie beschäftigte sich mit einem neuen Gebiet, nämlich der Beforschung antisemitischer Vorurteile. 1958 ging sie nach England zurück, um einen Labour-Abgeordneten zu heiraten, den sie in der Kriegszeit in London kennengelernt hatte.
Paul Lazarsfeld, geboren 1901, schlug schneller Wurzeln in der Neuen Welt. 1943 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an und wurde renommierter Professor für Soziologie. Während des Krieges war er als Berater des US-Kriegsministeriums tätig.
In den 60er-Jahren verschlug es ihn doch nochmals in die Heimat: Gemeinsam mit Oskar Morgenstern, Begründer der Spieltheorie, gründete er das Institut für Höhere Studien, heute ein renommiertes Zentrum für Wirtschafts-und Sozialforschung.
Dass Tochter Lotte in die Fußstapfen ihrer Eltern trat, passierte zufällig. Bailyn begann ein Studium der Mathematik, fokussierte sich später aber auf Sozialwissenschaften. Während des Studiums heiratete sie Bernard Bailyn, der zu einem der einflussreichsten Historiker der USA avancierte. Während er als Harvard-Professor mehrere Pulitzer-Preise gewann, kümmerte sie sich zunächst um die beiden Söhne.
"Eigentlich hätte mich mein Dissertationsbetreuer gerne angestellt", erzählt sie 60 Jahre später. "Aber dann hätte ich in Harvard im Gebäude der Schlafsäle unterrichten müssen -und dort waren Frauen nicht erlaubt." Nach mehreren kleinen Jobs in Harvard fand Baylin erst 1972,18 Jahre später, eine feste Stelle am MIT in Massachusetts. Später wurde sie die erste weibliche Professorin der Uni und erlangte USweite Bekanntheit. Anders als ihre Mutter spürte Bailyn die Einschränkungen als Frau am eigenen Leib. Das spiegelt auch ihre Forschung: In den 90er-Jahren kam sie in einer Studie zu dem Schluss, dass Arbeitnehmerinnen weniger zufrieden sind, wenn Familien-und Arbeitsleben voneinander abgeschottet sind. Unternehmen sollten das Private stärker integrieren, um produktiver zu sein. Heute plädiert sie dafür, dass Männer wie Frauen sich mehr Zeit lassen, Kinder großzuziehen. Sie sollten sich in ihren Karrieren Pausen gönnen. Etwas, was ihre Eltern versäumten.
Ausgerechnet in der Corona-Pandemie habe die Vereinbarkeit besser geklappt, sagt sie. Das Homeoffice mache es möglich, Privates und Berufliches zu vereinen, die Kinderbetreuung flexibler zu gestalten. "Das fanden wir schon vor 30 Jahren heraus!"
Von der Sozialpolitik des Roten Wien in der Zwischenkriegszeit ist Bailyn fasziniert: von der bezahlten Karenz und natürlich der Krankenversicherung. "Wir sind in den USA sehr hinten nach, mit vielen Dingen", seufzt sie knapp vor ihrem Heimflug. Ob sie sich als Österreicherin fühle? "Nein. Aber als Wienerin."