

Brot und Rosen
Margaretha Kopeinig in FALTER 26/2024 vom 28.06.2024 (S. 19)
Den Slogan "Brot und Rosen" hat die New Yorker Gewerkschafterin Rose Schneiderman erstmals 1911 in einer Rede verwendet: "The woman worker needs bread, but she needs roses, too." Diese Worte wurden zur Parole von tausenden Textilarbeiterinnen in Massachusetts. Neuerdings bedient sich auch die Armutsforschung dieses Leitspruchs. Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie, nennt seinen Essay so und im Untertitel: "Über Armut, oder: Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit."
Mit dem sperrigen Nachsatz signalisiert der Psychologe gleich vorab, worum es ihm geht: Menschen, die arm sind, brauchen mehr als Essen, Obdach und Kleider. Er lässt Betroffene zu Wort kommen, spricht über Scham und Schuldzuweisungen, analysiert Auswirkungen unterschiedlicher Sozialpolitik-Modelle und plädiert für "Lebens-Mittel" wie Kultur, die für Arme überlebensnotwendig sind. Auch Arme haben ein "Recht auf Freude", auf Musik, Kino und Erholung. Er hält es für essenziell, diesen Aspekt bei der Armutsbekämpfung zu beachten, denn darin unterscheidet sich "gute von schlechter sozialer Politik".
Doch welcher Weg führt zu einem sozialen Ausgleich? "Es braucht sowohl Sozialleistungen für die Ärmeren als auch armutspräventive Leistungen", antwortet der Autor. Ein Beispiel: Treffsichere Maßnahmen gegen die Teuerung für die Ärmsten und nicht ein Gießkannen-Prinzip, fordern die einen. Andere finden, dass die Armen nicht so viel bekommen sollen, sondern auch die Mittelschicht, die von der Inflation betroffen ist. "Wirksam für sozialen Ausgleich ist nur beides", sagt Schenk und untermauert dies mit einer OECD-Studie, wonach Länder, die ihre Sozialleistungen hauptsächlich auf Ärmere konzentrieren (UK, USA), zu den Ländern mit der höchsten Armut gehören. "Die Mitte ist dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt. Der Sozialstaat ist nicht in erster Linie für die Armen da, sondern für alle, besonders stabilisierend für die (untere) Mitte der Gesellschaft."