

In einem kleinen Café in Hongkew
Michael Omasta in FALTER 42/2022 vom 19.10.2022 (S. 20)
Entschuldigen Sie, gnädige Frau, sind Sie vielleicht meine Mama?“ Mit dieser Frage ihres Sohnes Otto enden Franziska Tausigs bewegende Erinnerungen „Shanghai Passage“. Das Wiedersehen findet nach neun Jahren der Trennung im Winter 1947 am Bahnhof Wien-Meidling statt. Otto Tausig, der spätere Volksschauspieler, war dem Nazi-Terror als 16-Jähriger mit einem Kindertransport nach England entkommen. Franziska und ihr Mann, der Rechtsanwalt Aladar Tausig, hatten sich im Mai 1939 nach Shanghai retten können; die übrige Familie wurde ermordet.
Der überwiegende Teil des Buches erzählt von der Zeit in der erzwungenen Emigration. Die „unbeschwerten Jahre“ davor handelt die 1895 aus Temeswar gebürtige Wienerin Tausig zügig ab: wie sie ihren Mann kennenlernte, sich verliebte, ihn im Ersten Weltkrieg beinahe verloren hätte – und wie sie nach dem Zusammenbruch der Monarchie ihr gemeinsames Zuhause im ungarischen Teil Siebenbürgens verlassen mussten, um sich in Wien ein neues Leben aufzubauen. Diese erste Entwurzelung wirkt in der Rückschau wie eine Generalprobe für die zweite.
Schon die mehrwöchige Überfahrt nach Shanghai – der Dampfer Usaramo war von der Gestapo gechartert, die Passage ein profitables Geschäft mit den Flüchtlingen – erweist sich als strapaziös. „Schlechte Nachrichten wurden immer geglaubt“, erinnert sich Tausig; so auch das Gerücht, dass dieser „port of last resort“ inzwischen gesperrt worden sei. Tatsächlich jedoch bot Shanghai rund 3000 österreichischen Juden eine Zuflucht.
Bei ihrer Ankunft sind die Tausigs völlig mittellos. Die juristische Expertise des kränkelnden Aladar ist hier nichts wert, die Backkünste der pfiffigen Franziska dafür umso mehr. Rasch findet sie Anstellung in einem Restaurant, indem sie vor versammelter Küchenbrigade (neugierig „starrten mich 14 ,Schlitzaugen‘ an“) einen Apfelstrudel zubereitet. Später führt das Ehepaar kurze Zeit sogar ein eigenes „Wiener Café“, das zum Treffpunkt für viele Emigranten wird.
Franziska Tausig erweist sich als Überlebenskünstlerin. Allen bitteren Erfahrungen zum Trotz – ihr Mann stirbt 1943 an Tuberkulose im Ghetto Hongkew – steckt ihr Buch voller heiterer Vignetten. Etwa die Beschreibung des Reiskochs Rudi, vormals Schuhfabrikant, der aussieht wie Hans Moser und diesen auch perfekt imitiert: „Wie er so dastand, schmatzend, nuschelnd, raunzend, dachte man kaum daran, dass man nicht in Wien war, dass es noch Krieg gab und dass er nicht der echte Moser war.“
„Shanghai Passage“ wurde 1987, zwei Jahre vor Tausigs Tod, erstmals veröffentlicht und seither mehrfach aufgelegt (worauf die aktuelle Ausgabe jeden Hinweis vermissen lässt). Dass die Autorin lieber „kleine Brötchen“ buk, statt Zeitzeugenschaft für sich zu beanspruchen, begründet sie mit der Erinnerung an einen alten Museumsdiener, der sagte: „Wenn S’ Ihnen so nahe zu dem Bild stellen, werden S’ gar nix sehen.“ Was damals wirklich in der Welt geschah, resümiert Tausig, davon hatten die Emigranten in China keine Ahnung.