

Bibliothekarin, aber witzig
Anna Goldenberg in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 37)
Einem Speibsackerl verdankt Monika Reitprecht ihren ersten und einzigen Shitstorm. Ein Buch des brasilianischen Autors Paulo Coelho war in einer Zweigstelle der Büchereien Wien zurückgegeben worden. Darin lag eines der weißen Papiersäckchen aus dem Flugzeug, das der Nutzer sichtlich als Lesezeichen verwendet hatte. Am 21. März 2015 setzte Reitprecht dazu einen Tweet samt Foto ab: "Wir haben nun Lesezeichen speziell für Paulo-Coelho-Bücher."
Die spirituellen Geschichten des brasilianischen Bestsellerautors finden die einen erhellend, die anderen zu platt. Ein ganzer Artikel auf orf.at widmete sich damals den Reaktionen auf Reitprechts Tweet. Ein Grund, die Jahreskarte zu verlängern, schrieb eine Userin. "Das ist eigentlich nicht die Rolle einer öffentlichen Bücherei", befand hingegen Gerhard Ruiss von der IG Autorinnen Autoren.
"Ich darf die Bücher schlecht finden", verteidigt sich Reitprecht. Und sie darf das posten, im Namen der Büchereien Wien mit den 38 Zweigstellen und 1,3 Millionen Büchern, DVDs, E-Books und weiteren Medien. Seit 2009 befüllt die 49-Jährige die Facebook-und Twitter-Kanäle des städtischen Bibliotheksnetzes, eigentlich gemeinsam mit einer Kollegin; doch Reitprecht ist es, die dieser Tage ihr bereits zweites Buch mit den besten Postings veröffentlicht.
"Den Titel hab ich leider vergessen aber es ist blau" heißt das Neue, und besteht hauptsächlich aus solchen Kundenanfragen, und den schrägsten Ausreden für zu spät zurückgebrachte Bücher. Garniert sind die Zitate mit Reitprechts -in der Regel unausgesprochenen - Antworten. "'Es ist mir nicht möglich, das Buch zurückzugeben, da ich es noch nicht ausgelesen habe.' - Sie haben damit den schwachen Punkt des Konzepts Leihbücherei getroffen." "'Das E-Book "Kapitalismus" funktioniert nicht!' - Wenn es nur das E-Book wäre." Trocken mit leichter Schärfe, verschroben, aber lebensnah, intellektuell ohne Arroganz. Der Humor kommt an: Immerhin 69.000 Nutzer folgen ihr auf Facebook, 23.000 auf Twitter. Aber wer ist Österreichs bekannteste Bibliothekarin?
In Wien-Liesing aufgewachsen, lasen ihr die Eltern vor, ging sie oft mit der Mutter in die Bücherei, um sich die Bücher von Christine Nöstlinger auszuleihen. Reitprecht studierte Geschichte und Politikwissenschaften und sah sich danach in einer wissenschaftlichen Bibliothek oder einem Verlag. Aber dann war bei den Büchereien Wien eine Stelle frei. 1999 begann sie in der Hauptbücherei, damals noch mit Sitz in der Josefstädter Skodagasse.
Seit 2009 steht sie nicht mehr hinter der Theke. Stattdessen kümmert sie sich um die Website, Facebook und Twitter sowie die E-Books. Kundenbegegnungen hat sie nun per Mail; in ihre Postings fließt aber auch ein, was ihr Kolleginnen und Kollegen aus den Bezirken erzählen. Anfangs blieben die Inhalte brav - Veranstaltungsankündigungen und Links zu Buchrezensionen; doch die frechen Beobachtungen sorgten für Klicks, die Bücherei ließ sie gewähren.
25 Millionen Euro lässt sich die Stadt ihre Büchereien jährlich kosten. Im internationalen Vergleich ist das günstig: Hamburg hat für sein ähnlich großes Bibliotheksnetz ein Budget von 36 Millionen Euro. Das Wiener System entstand Ende des 19. Jahrhunderts, als private Vereine unterschiedlicher politischer Couleur Leihbibliotheken einrichteten. In der Ersten Republik wurde die sozialistische Bildungszentrale mit ihren 60 Arbeiterbüchereien der wichtigste Träger. 1936 wurden sie vom austrofaschistischen Regime übernommen, das auch gleich den Bestand zensierte: Kant, Dostojewski, Tucholsky - 1500 Titel flogen raus. Die Nazis säuberten munter weiter.
Nach 1945 blieb das Büchereiwesen in der öffentlichen Hand. 40 Medien leiht sich jeder Nutzer im Schnitt pro Jahr aus. Minderjährige machen die Hälfte der angemeldeten Nutzer aus. Möglicherweise, weil sie die Jahreskarte, die sonst 32 Euro kostet, gratis bekommen.
Die jungen Nutzer sind es auch, die an diesem Dienstagnachmittag in der Hauptbücherei am Gürtel umherwuseln und über ihren Hausaufgaben brüten. Durch die Pandemie schrumpfte die Zahl der Kartenbesitzer von rund 170.000 auf 143.000. Die Tendenz geht trotzdem Richtung Erholung, immerhin waren es wieder 149.000 im Vorjahr, beim Vorkrisenniveau ist man aber noch nicht angelangt.
Dafür nahmen - wenig überraschend - die E-Book-Entlehnungen zu. Also Reitprechts Zuständigkeit. Sie ist für den Ankauf neuer E-Werke zuständig, im Bibliothekssprech Lektorat genannt. Ja, Kunden dürfen ihre Wünsche senden, alle zwei Wochen wird eingekauft, etwa 200 Titel sind es meist. Rund 89.000 gibt es mittlerweile.
Was in den Bestand kommt, entscheiden Qualitätskriterien -und Menschen wie Reitprecht. Rechtsextreme Hetzschriften und Corona-Geschwurbel nicht, Winnetou und Pippi Langstrumpf schon. Marc Elsberg, Gertraud Klemm, Daniel Glattauer -auch Reitprechts Buchempfehlungen auf Twitter sind progressiv, aber nicht elitär.
Das Klischee der strengen, verstaubten Bibliothekarin will Reitprecht aufbrechen, mit ihrem Humor und auch, indem sie erklärt, was ihr Job beinhaltet. Den Umgang mit Menschen zum Beispiel. Und so flapsig sie auf den sozialen Medien daherkommt, so überlegt ist sie im Gespräch. Die bekannteste Bibliothekarin des Landes ist keine Selbstdarstellerin, sondern höflich, ja ein wenig vorsichtig. "Die Bücherei ist ein sozialer Treffpunkt", sagt sie dann. Ein älterer Herr geht fluchend vorbei: "So ein depperter Scheißdreck!" Reitprecht grinst, ihr Kommentar kommt prompt: "Wir haben viele zufriedene Kunden!" Anderthalb Stunden später ist der Tweet gepostet.