

Ach, läge Österreich immer noch am Meer!
Barbara Tóth in FALTER 23/2024 vom 07.06.2024 (S. 19)
In den 1970er-Jahren waren sie Sehnsuchtsorte an der Oberen Adria, die den Sommerurlauber aus Österreich ins Schwärmen brachten. Tarvis, Triest, Jesolo, Caorle -so schön und eigentlich, irgendwie, immer noch Teil Österreichs. Oder?
"Österreicher bist du erst in Jesolo", dieser Satz seines Onkels Bertl steht am Anfang der Spurensuche des Literaturwissenschaftlers und ORF-Redakteurs Gerald Heidegger nach der österreichischen Identität im Wandel. Wo, wenn nicht "im Ausland", spürt man mehr, wer man ist? Natürlich war die Nostalgie, mit der die Reisenden zu den ehemaligen Habsburger-Orten ans Mittelmeer fuhren, immer trügerisch. Sie war stark geprägt vom Motiv des großen Verlustes, als aus der Monarchie ein österreichischer Kleinstaat wurde, ohne Meerzugang, ohne Grandezza. In dem fast alles andere zum "Ausland" wurde, wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud beklagte.
Und sie war völlig geschichtsvergessen, weil sie ausblendete, wie die "anderen", die Italienerinnen und Italiener, die Urlaubsgäste aus dem Norden wahrnahmen. Im "kollektiven Gedächtnis" (ein Begriff, den Maurice Halbwachs geprägt hat) der Italiener wie Slowenen existierte ein ganz anderes Bild von Österreich. Hier stand das Habsburgerreich für Fremdherrschaft, Unterdrückung, Unfreiheit, gegen die man sich kulturell wehrte. Auch wenn man die Segnungen der hervorragenden k.u.k. Verwaltung durchaus schätzte.
Ein schönes Beispiel dafür ist Hugo von Hofmannsthals Bewunderung für den italienischen Dichter Gabriele D'Annunzio. Der flog im Sommer 1918 nach Wien und warf Flugblätter ab, gegen das Kaiserreich, für ein stolzes Italien. Hofmannsthal bemühte sich gleichzeitig beim Kaiser um die Gründung der Salzburger Festspiele.
Ebenso ausgeblendet wurde (und wird), dass der Alpen-Adria-Raum, heute mustergültig touristisch bewirtschaftet, einst Schauplatz schwerer Kriegsverbrechen in beiden Weltkriegen war. Deutsche Truppen ermordeten rund 10.000 Zivilpersonen, die Aufarbeitung der Massaker läuft immer noch.
Heidegger präsentiert in seinem lesenswerten Essayband zahlreiche Beispiele für diese Widersprüche im Selbst-und Fremdbild Österreichs.
Bedenken die Neujahrskonzertbesucher, wenn sie zum "Radetzky-Marsch" klatschen, dass dieses Werk von Johann Strauss Vater "fürs Kaisertum, gegen die Revolution und auch für die Niederschlagung der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen in Italien" komponiert wurde?
Wie sind die Weinflaschen mit Nazi-Verherrlichungen auf dem Etikett zu verstehen, die von ewiggestrigen Ösi-Urlaubern jenseits der Grenze in Italien, wo es kein NS-Verbotsgesetz gibt, so gerne gekauft wurden?
Und was ist mit den "Steirer-Abenden", die der damalige steirische SPÖ-Landesparteiobmann Adalbert Sebastian im Sommer 1974 als Teil seines Landtagswahlkampfs zwischen Caorle und Jesolo veranstaltete? Das seien ja quasi "Vororte der Steiermark", warum also nicht grenzüberschreitend Wahlkampf machen, meinte er damals.
Für Heidegger fallen diese Adria-Nostalgien unter jene "Mitteleuropabeschönigungen", aus denen sich Österreich seine Identität nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenzimmerte. Er erinnert daran, dass selbst kritische Autoren wie Thomas Bernhard oder die aus der Emigration zurückgekehrte Hilde Spiel in den 1970er-Jahren lieber in Triest die große literarische Vergangenheit beweinten, als sich beispielsweise für Dissidenten in der kommunistischen tschechoslowakischen Republik (ČSSR) einzusetzen. "Da vergaß man, dass man im Norden des österreichischen Kleinstaates auch ein historisches Sendungsbewusstsein auszuleben gehabt hätte."
Symbolisch dafür steht das Kunstwerk "Kaorle am Karlsplatz" von Margot Pilz, das sie 1982 vor der Karlskirche installierte. Dafür ließ sie tonnenweise Sand aufschütten und Liegestühle und Sonnenschirme aufstellen.