

Julia Zarbach in FALTER 22/2011 vom 03.06.2011 (S. 23)
Dass eine Schriftstellerin aus der Perspektive eines Mannes erzählt, ist höchstens dann ungewöhnlich, wenn der Erzähler doch lieber eine Frau wäre. Im Roman der Französin Emmanuelle Bayamack-Tam heißt Daniel auch Marie-Line und unterhält in einem Nachtclub in den Hot Pants seiner üppigen polnischen Adoptivmutter das Publikum. Tanzend und singend zum feuchten Traum seiner Jugend, Julio Iglesias, kann er vergessen, dass er seiner Mutter zuliebe – der er auf nicht wenig ödipale Weise zugetan ist – ein Doppelleben führen muss. Mehr noch, Daniel will wie seine Mutter sein, er will in ihre weiße Haut, die seinem dunklen Teint so wenig ähnelt, schlüpfen. Vor allem dann, wenn sie es mit dem Ex-Häftling, den er mit nach Hause gebracht hat, treibt. Diese Konstellation muss naturgemäß zu sämtlichen vorstellbaren Tragödien führen, die trotz aller Verzweiflung und Brutalität mit einer außerordentlichen Schelmenhaftigkeit abgehandelt werden. Bayamack-Tam erzählt diesen Stoff über die Verwirrung sexueller Identität mit einem wahnwitzigen Schwung.