

Einladung zum Hirnfick
Gerhard Stöger in FALTER 33/2016 vom 19.08.2016 (S. 30)
Der Autor Clemens Marschall durchstreift Subkulturen und Saufhütten auf der Suche nach Geschichten
Er habe kein Handy, nur Internet und Festnetz, mailt Clemens Marschall. Doch keine Sorge, er sei bei Terminen stets fünf Minuten zu früh da. Und tatsächlich: Das Gespräch ist für elf Uhr angesetzt, kurz davor sitzt der 30-Jährige bereits bei seinem Kaffee.
Marschall ist der Herausgeber des großartigen Subkulturmagazins Rokko’s Adventures, das seit 2007 halbjährlich erscheint und über Musik, Kunst und Literatur berichtet, von Menschen mit ungewöhnlichen sexuellen Neigungen erzählt, unbekannte Nischen des Praters ausleuchtet, Prostituierte und Gefängnisärzte zu Wort kommen lässt, dem Wiener Abwassernetz nachspürt, beim Ordnen der Plattensammlung einer US-Punklegende dabei ist – oder Texte von Stefanie Sargnagel zu einem Zeitpunkt druckt, als sie gerade eine bessere Handvoll Facebook-Freunde hat. Überraschen wolle er mit dem Heft, sagt Marschall, unvorhersehbar bleiben und der Leserschaft mit den diversen Abenteuern „ein paar Hirnficker“ liefern.
Seinen Lebensunterhalt verdient er als freier Journalist, derzeit vor allem für die Wiener Zeitung und Ö1. Wie man da ohne Mobiltelefon leben kann? „Verlässlich und pünktlich sein“, lautet die knappe Erklärung. „Wenn das Gegenüber weiß, dass man kein Handy hat, klappt es mit der Zuverlässigkeit plötzlich wieder. Und wenn einmal etwas wirklich dringend ist, sag ich: ‚Ruf die Rettung, nicht mich!‘“
Die Erklärung seiner Handyverweigerung ist so simpel wie überzeugend: „Ich mag nicht immer erreichbar sein, ich tu auch gerne strawanzen.“ Zuletzt führte Marschall diese Lust am scheinbar ziellosen Umherstreifen jahrelang durch Dutzende Wiener Absturzhütten, denen er gemeinsam mit dem Fotografen Klaus Pichler im aufwendig gestalteten Kunstbuch „Golden Days before They End“ ein liebevolles Denkmal errichtet hat.
Ein Denkmal, das frei von Kitsch und Verklärung auskommt und die Gäste und Betreiber dieser alkohol- und nikotingeschwängerten Beisln mit klingenden Namen wie „Schmauswaberl“, „Café Bauchstich“, „Imbissstube Angst & Bang“ oder „Café Blackout“ nie bloßstellt – ausgewählte Fotos der Serie sind seit Wochen auf der Stadtleben-Aufmacherseite im Falter zu sehen.
Der Fotograf Pichler ist Antialkoholiker, der Autor Marschall Doktor der Musikwissenschaft und seinem äußeren Erscheinungsbild nach ein unscheinbarer Typ. Was die beiden auf ihre „Golden Days“-Mission brachte?
„Ich bin aus Neugier immer schon gerne auf ein Getränk in diese Eckbeisln gegangen, um zu schauen, was passiert“, sagt Marschall. „Über die Jahre habe ich festgestellt, dass diese Lokale der Reihe nach zusperren und regelmäßig Leute sterben, mit denen ich gerade vor einer Woche noch ein Bier getrunken habe. Da dachte ich mir, das sollte auf irgendeine Weise dokumentiert werden.“
Aus „irgendwie dokumentieren“ entwickelte sich 2012 ein konkretes Projekt mit klarer Arbeitsteilung: Marschall befragte die Menschen hinter der Ausschank, während Pichler die Gäste fotografierte. Probleme habe es dabei keine gegeben: „Sobald der Wirt gesagt hat, das geht klar, hat es für die Gäste auch gepasst“, beschreibt Marschall die Recherche.
„Wir sind sogar sehr willkommen aufgenommen worden, was aber wohl auch daran liegt, dass wir nie versteckt agiert, sondern immer mit offenen Karten gespielt haben. Das ist mir auch bei meiner journalistischen Arbeit das Wichtigste: Wer mir sein Vertrauen schenkt, soll später beim Lesen ‚Leiwand, du hast mich verstanden!‘ sagen und nicht ‚Was bist du für ein Wichser, du kommst und missbrauchst mein Vertrauen?‘“. „Golden Days before They End“ ist nicht die einzige dicke Schwarte, mit der Marschall aktuell auf dem Buchmarkt anschreibt. Unter dem Titel – tief Luft holen – „Avant-garde from Below: Transgressive Performance from Iggy Pop to Joe Coleman and GG Allin“ hat er eine stark überarbeite und der besseren Verbreitung wegen ins Englische übertragene Fassung seiner Dissertation herausgebracht.
Marschall untersucht darin das Grenzgebiet von radikaler Performancekunst, Punk und Industrial-Kultur und lässt Dutzende internationale Protagonisten zu Wort kommen. „Es geht darum, was Menschen künstlerisch gemacht haben, denen Punk nach seiner schnellen Kommerzialisierung zu langweilig geworden ist“, erklärt er das Buch Unkundigen. „Es geht um das Ausloten menschlicher und künstlerischer Grenzen, darum, wie weit sie zu gehen bereit waren.“
Marschall ist als zweiter Sohn eines Lehrers im oberösterreichischen Ried im Innkreis aufgewachsen. Glückliche Kindheit, Baumhausbauen bei der Oma, diese Abteilung. Dann hat der große Bruder eine Nirvana-Platte heimgebracht und so das subkulturelle Interesse des angehenden Teenagers geweckt. Marschall entdeckte die Nirvana-Kumpel und Metal-Dekonstruktivisten Melvins, über die er später seine Diplomarbeit schreiben sollte, und wurde jung Autor bei kleinen Magazinen; unter dem Pseudonym Rokko Anal begann er irgendwann auch selbst Musik der Marke „eigenwillig und abgedreht“ zu machen.
„Ich liebe es, überrascht zu werden – musikalisch, künstlerisch, im Leben, aber auch durch Lokale“, erklärt Marschall sein ausgeprägtes Faible für gesellschaftliche und künstlerische Randbereiche. „Mir taugt es, wenn meine Wahrnehmung auf den Kopf gestellt wird. Daher schaue ich ständig: Was für außergewöhnliche, abartige, komische Geschichten gibt es noch, die außerhalb von meinem Verständnis liegen?“
An weiteren adventures dürfte es Herrn Rokko also auch künftig nicht mangeln.