

Wie viel Halt findet man im Alexandriner?
Wiebke Porombka in FALTER 41/2017 vom 13.10.2017 (S. 12)
Nathalie Azoulai nimmt einen Umweg über das 17. Jahrhundert, um die großen Fragen an die Literatur der Gegenwart zu stellen
Eine Frau wird verlassen, der geliebte Mann kehrt zurück zu Gattin und Kindern. Die Verlassene bleibt allein mit ihrem Schmerz. Die Ausgangsszene von Nathalie Azoulais Roman „An Liebe stirbt man nicht“ mag realitätsgesättigt sein, ein Stereotyp bleibt sie allemal, so dass die 1966 geborene französische Autorin gut daran tut, die Umstände der Trennung lediglich vage und recht eilig zu skizzieren. Denn Azoulai – von dem groschenhefttauglichen Titel der deutschen Ausgabe sollte man sich nicht täuschen lassen – geht es in ihrem Roman um nichts weniger als die freilich nicht pathosfreie Frage, ob und wie Literatur uns von der Qual heilen kann, der seelischen wie der körperlichen, in die uns eine unerfüllte Liebe stürzt.
Weil die Trostversuche ihrer Umgebung ihr schal anmuten, flüchtet sich die unglücklich Liebende in die Lektüre Jean Racines. Dass sie sich Bérénice nennt und den vergeblich begehrten Mann Titus verweist schon auf ein Stück des französischen Dramatikers, dessen Tragödien von maßlosem, sich über alle gesellschaftlichen Konventionen hinwegsetzendem, stets unerfülltem, also desaströsem Verlangen angetrieben werden.
Unter dem Vorwand herauszufinden, warum ein Mann des 17. Jahrhunderts derart treffend die Gefühle einer Frau des 21. Jahrhunderts in Worte zu fassen versteht, gräbt sich Bérénice immer tiefer nicht nur in die Dramen, sondern auch in das Leben Racines. Schon nach wenigen Seiten ist ihr Roman keine im Heute angesiedelte Liebesgeschichte mehr, sondern eine literarisierte Biografie Racines, jenes im Kloster aufgewachsenen Waisenjungen, der in Paris reüssiert und es dort sogleich mit Corneille und Molière aufnimmt.
Aber wenn es für die heutige Bérénice das laute Sprechen der Verse Racines ist, das ihr zumindest ein wenig Halt verleiht, wenn es der Rhythmus der Alexandriner ist, der das aufgewühlte Atmen beruhigt, dann bereiten auch das Klosterleben oder die Ranküne im höfischen Theater allenfalls die Kulisse für Reflexionen über die Literatur selbst.
Liegt Racines unbedingter Wille zum Schreiben nicht darin begründet, dass die Grammatik dem elternlosen Jungen ein Geborgensein zumindest in der Sprache beschert? Und schreibt nicht bereits der heranwachsende Jean durch das Übersetzen antiker Autoren an einer überzeitlichen Vorstellung der Liebe mit, die weniger auf realem Gefühl als auf sprachlicher Struktur und deren Wirkung beruht? Ist es womöglich die schöne Literatur selbst, die uns die Liebe und mit ihr all das heillose Unglück und Leid allererst einpflanzt?
Recht bald hat man sich einigermaßen behaglich eingerichtet in dieser Mischung aus poetologischen Überlegungen und historischem Budenzauber und verschwendet kaum noch einen Gedanken an den ursprünglichen Erzählanlass. Umso brachialer der Moment, in dem Azoulai nicht nur uns den sicher geglaubten Boden unter den Füßen wegzieht, sondern natürlich vor allem Bérénice, die, seitdem ihr Geliebter sie verließ, nichts mehr von ihm gehört hat. Als sie nun eine Nachricht von dessen Gattin erhält, bringt das, was Bérénice darin mitgeteilt wird, deren sorgfältig gezimmerte poetische Überlebenskonstruktion in wenigen Sekunden zum Einsturz.
Vorerst jedenfalls. Bérénice wird einen neuerlichen Versuch unternehmen, sie wird sich wieder in Racine hineinwühlen, wenngleich sie spätestens jetzt weiß, dass die Literatur uns zwar ein Stück weit über das Leben hinwegtragen kann, der emotionale Absturz hernach aber umso krachender ausfällt.
Jeder füge sich seine eigenen Narben zu, merkt Racines Lehrer Hamon einmal an. Mit den Narben meint er die Kommentare und Gedanken, die ein Text bei dem oder der Lesenden hervorruft. Auch Nathalie Azoulais „An Liebe stirbt man nicht“ provoziert beglückenderweise Blessuren, die nicht einwandfrei verheilen werden. Vielleicht selbst bei jenen, die der ungebrochen hohe Ton dieses Romans zunächst ein wenig befremden mag.