
„Du siehst die Dinge, wie sie sonst keiner sieht“
Juliane Fischer in FALTER 42/2021 vom 20.10.2021 (S. 31)
Eine Odyssee durch Südafrika als Schule des Überlebens
Wenn die Kiefern im Wind wiegen, die Krähen davonfliegen und der Staub in der Luft tanzt, könnte das in Mitteleuropa sein, aber Kirsten Miller versetzt uns nach Südafrika, wo es schon lange nicht geregnet hat und hinter den Dünen auch Silkybark, Milchholzbäume und wilde Oliven gedeihen. Die Leute im Dorf sind abergläubisch und misstrauisch. Sie bewundern Yanela nicht dafür, dass sie sich alleinerziehend mit drei Kindern durchschlägt, sondern misstrauen ihr. Kurz nach ihrer Tochter stirbt auch die Mutter. Die Söhne sind auf sich allein gestellt. Die Lage ist deprimierend, und so macht sich der 17-jährige Ash mit Zuko auf den Weg zum wohlhabenden Vater in die Stadt.
Zuko ist acht und kann nicht sprechen. „Was andere sahen, spürte er. Was andere hörten, sah er“, heißt es an einer Stelle. „Du siehst Dinge, die sonst keiner sieht. Du kennst dich aus mit Schönheit. Mit Licht. Und Mustern“, an einer anderen. Kirsten Miller fängt hier gekonnt eine Form von Autismus als eine besondere, synästhetische Wahrnehmung ein. Die Autorin, die in Durban ein Zentrum zur Frühförderung autistischer Kinder leitet, zeigt mit ihrem einfühlsamen Stil voll feiner Zwischentöne und in träumerischer Sprache, dass man Autismus als Störung, aber auch als Begabung begreifen kann. Gespannt begleiten wir die beiden Brüder auf ihrer Odyssee hin zu Verantwortung und Menschenkenntnis – eine Geschichte über Urvertrauen, das Verlieben und Verlieren. Sie spüren die rohe Natur und die furchteinflößende Stadt und treffen auf seltsame, verrückte, hilfsbereite oder mutige Typen sowie die Lebensretterin Ela, die Leichtigkeit und Lebensfreude schenkt und sie in Fragen verwickelt, etwa, was Familie bedeutet. Das zieht sich durch den Roman, der auch Themen wie Landraub, ungleiche soziale Chancen und Zwangsheirat streift.
Die Burschen erleben Scham, Wut und Hoffnung. Sie müssen ständig abwägen: Wem vertrauen? Was ablehnen? Was annehmen? Sie schützen einander und merken: Jemanden zu lieben, das heißt ihn/sie annehmen, wie er/sie oder auch das Seepferdchen-Stofftier ist, heißt, Kraft für Entscheidungen zu geben. Denn die Gesellschaft mag die Welt vielleicht in Schwarz und Weiß teilen, sie ist aber in Wahrheit „so viel größer als wir. Aber was wir daraus machen, haben wir selbst in der Hand. Unsere Entscheidungen können wir selbst wählen.“


