

Die Verlockungen des blauen Horizonts
Julia Kospach in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 6)
Zwei herrliche Abenteuerromane von Henry de Monfreid und Richard Hughes sind zu entdecken
Die beiden Bücher erschienen im Abstand von nur drei Jahren, das eine 1928, das andere 1931. Sie waren beide die ersten Romane der so offensichtlich begnadeten Autoren Richard Hughes und Henry de Monfreid und machten sie gleichermaßen auf einen Schlag berühmt – den einen in England, den anderen in Frankreich. Jetzt kann man sie endlich auch auf Deutsch lesen, ein Umstand, den man als Glücksfall bezeichnen muss.
Henry de Monfreid (1879–1974) schrieb, von Freunden gedrängt, mit "Die Geheimnisse des Roten Meeres" den ersten Band seiner autobiografischen Abenteuer. Dutzende weiterer Bücher aus seiner Feder folgten und bescherten den Franzosen ihre ganz eigene farbenprächtige Abenteuerliteratur.
Monfreid erzählt vom Leben auf dem Meer zwischen den Küsten der Arabischen Halbinsel und dem Horn von Afrika, "dieses vulkangespickte, lavabedeckte, windumtoste höllische Land" voller Piraten, Sklaven, afrikanischer Seeleute, arabischer Sheiks und hartgesottener Draufgänger wie Monfreid selbst.
Die entlegenen, rauen Weltgegenden, in denen man überlebensgroße Figuren wie Henry de Monfreid noch unterbringen könnte, sind seither rar geworden. Der junge Franzose aus gutem Haus, der als todunglücklicher Angestellter einer Handelsfirma erst in Abessinien landete und sich schließlich, knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Dschibuti niederließ, um von dort aus "der Verlockung des blauen Horizonts" zu erliegen, erprobte seinen Freiheitsdrang mit vollem Körpereinsatz und hoch entwickelter Beobachtungsgabe.
Dass einer ein so unverdrossenes Vergnügen an der Tollkühnheit hat, sich wie ein Odysseus des Roten Meeres listenreich aus Piratenangriffen, gestellten Fallen, Verfolgungsjagden auf hoher See und tückischen Untiefen befreit und dabei auch noch weltgewandt, kenntnisreich und begabt genug ist, aus dem Erlebten herzzerreißend schöne und pulsbeschleunigend spannende
Literatur zu machen, stimmt einen ungeheuer heiter.
"Die Geheimnisse des Roten Meeres" ist ein fantastisches Buch, das einem – wie der Wind auf See, von dem darin so oft die Rede ist – den Kopf frei bläst. Da schreibt ein Mensch, der Lust hat, sich selbst zu erproben, der lernwillig, neugierig und frei von Autoritätshörigkeit ist und angesichts von Gefahr nicht mit Zaudern, sondern mit kalkulierter Kaltblütigkeit reagiert.
Monfreid ist eine herrliche Abwechslung zu dem Übermaß an Befindlichkeitsliteratur, mit der man es dieser Tage zu tun hat. Vielleicht macht auch das exotische Setting ganz einfach Spaß. Prall gefüllt mit genialen Porträts, Gesprächsszenen, Landschaftsbildern und mit kühnen Segelmanövern, bei denen einem fast das Herz stehenbleibt.
Es geht darin auch um den Hochseilakt, als Europäer in einer waffentragenden zähen Männergesellschaft aus Herren und Sklaven nicht als Kolonialist aufzutreten, sondern als einer, der Respekt verdient, weil er genauso gut segeln und feilschen, kämpfen und verhandeln, schweigen und tricksen kann. Es ist zweifellos ein bizarres Bündel an Fähigkeiten, das da verlangt wird: Reue zu zeigen und Fragen zu stellen sind Unarten, hingegen ist es ratsam, auf der Flucht vor dem Patrouillenboot des Zolls das eigene Schiff zu versenken.
Ja, es ist eine Welt mit anderen Regeln, in die man bei Monfreid eintaucht. Und nichts tut man lieber. Natürlich wird es noch einmal besser dadurch, dass man weiß, dass das meiste davon tatsächlich so oder so ähnlich passiert ist.
"Orkan über Jamaika" ist eine ganz andere Geschichte. Piraten und das Meer spielen auch hier eine Hauptrolle, dazu aber vor allem eine Horde Kinder, ganz besonders ein zehnjähriges Mädchen namens Emily. Die Geschichte, die Richard Hughes (1900–1976) erzählt, bezieht ihren großen Reiz daraus, dass eine vermeintlich klassische Seeräubergeschichte komplett gegen den Strich gebürstet wird.
Nichts ist hier so, wie es sein soll: Die Piraten sind nicht bloß blutrünstig und böse, die Kinder, die ihnen auf der Überfahrt von Jamaika nach England noch in karibischen Gewässern – eher durch ein Missverständnis – in die Hände fallen, sind nicht nur deren unschuldige, verzagte Opfer. Dazu kommt: Das Letzte, womit man in einem Buch rechnet, in dem es um Tropenstürme, Schmugglernester und das Leben an Bord eines Piratenschiffs geht, ist die halluzinatorisch genau beschriebene Innenansicht der pubertären Anwandlungen eines zehnjährigen Mädchens.
Genau das findet sich aber auch in "Orkan über Jamaika". Emilys ahnungsvolle, halb ratlose Beobachtungen und die Momente, in denen sie sich auf der Schwelle zwischen Kindheit und Eintritt ins Erwachsenenalter erstmals ihrer selbst bewusst wird, sind ein wesentliches Spannungselement dieses wunderbaren Romans: Richard Hughes ist eindeutig der Psychologe unter den Abenteuer-Romanciers.
Ein zweites Schwungrad des Buchs stellt das Motiv der Rekonstruktion von Erinnerung dar. Das ist gerade angesichts eines Personals, das sich vorrangig aus Piraten und Kindern zusammensetzt und also zwei Gruppen angehört, auf die der klare Blick durch besonders starre Klischees verstellt wird, sehr ergiebig und findet seinen Höhepunkt in doppelbödigen Sätzen wie: "Woher sollten sie, Kinder, besser wissen als die Erwachsenen, was sie erlebt hatten?" In aller Unschuld werden hier Leben ruiniert und Schicksale neu geschrieben, dass einem angst und bange wird.