

Great Depression
Matthias Dusini in FALTER 15/2013 vom 12.04.2013 (S. 30)
Der Fotokünstler Lewis Baltz und der Comicautor Chris Ware montieren die Leere der US-Gesellschaft zu Bildrastern von eiskalter Schönheit
Wer die Befindlichkeit der Gegenwart ins Auge fasst, kommt an der Depression nicht vorbei. Die Künstler Chris Ware und Lewis Baltz widmeten sich der dunklen Seite der von Leistung faszinierten US-Gesellschaft. Eine Ausstellung und ein Buch sind der Anlass dafür, die beiden Meister der Reduktion einander gegenüberzustellen.
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Ahm", sagt Jimmy Corrigan. Was er denn für eine Ausbildung habe, will ein Mädchen wissen. "I
Ich? Das Übliche, d
denk ich
" So spricht einer, dessen Zunge vom vielen Schweigen lahm ist. Der Comicautor Chris Ware, 45, erzählt in "Jimmy Corrigan – der klügste Junge der Welt" die Geschichte eines dicklichen Losers Mitte 30 als Parabel auf eine leidende Gesellschaft. Die Menschen sind in ihrem inneren Rahmen gefangen, wie die Bildkader, die sich im Gitterraster über die Seiten verteilen.
"Jenes am Ende des 20. Jahrhunderts so populäre psychologische Phänomen der Bindung will sich zwischen diesen beiden ausgesprochen wenig anziehenden Protagonisten nicht einstellen", heißt es in einer Bildunterschrift. Die beiden Helden der Graphic Novel sind Jimmy und sein Vater, der ihn verlassen hatte, als er noch ein kleiner Bub war. Corrigan senior leiht sich beim ersten Wiedersehen nach Jahrzehnten ein Video aus, damit der Abend zu Hause nicht zu fad wird, eine Komödie. "Ä
Ähmmm
"
Als Wares nunmehr ins Deutsche übersetzter Grafikroman im Jahr 2000 erschien, bekam er hymnische Kritiken. Er hatte die Konventionen des zur Kinderliteratur verharmlosten Genres gebrochen, indem er etwa die Aktionen verlangsamt darstellte; ganze Bildstrecken zeigen, wie sich eine Figur am Kopf kratzt.
Wares Comics sind überhaupt nicht komisch, sie zeigen Stürze und Autounfälle als Steigerung des Elends, ohne dem Leser das befreiende Lachen des Slapsticks zu gönnen. Wie die Fotografen Lewis Baltz oder Joel Sternfeld (der letztes Jahr übrigens in der Albertina zu sehen war) blendet er trostlose Räume und Landschaften als Schauplatz der Handlung ein; es sind Nicht-Orte im visuellen Matsch der Vorstädte und Autobahnen.
Corrigans Alltag spielt sich zwischen Bürokojen und Warteräumen ab, sein Blickfeld beschränkt sich auf Kaffeeautomaten und den Anrufbeantworter, der ohnehin nur für die besitzergreifende Mutter bereitsteht. Eine typische Ware-Beobachtung: Was sieht ein trauriger Mensch, der seinen Kopf zwischen die Knie klemmt?
Strommasten sind Jimmys Wald, der Schnee hüllt die Fastfood-Filialen und Shopping-Malls in eine schmerzhaft eintönige Monochromie, die den inneren junk space abbildet. Dabei nutzt der Autor virtuos die Möglichkeiten des Mediums, legt eine Vielzahl von Bildsorten nebeneinander. Er setzt Fotos aus dem Familienalbum und Überwachungskameras ein, zitiert Plakatwerbungen aus dem 19. Jahrhundert und Sammelbilder für Kinder. Wie der moderne Roman erzählt er die Ereignislosigkeit im Leben seiner Antihelden, riskiert Sprünge im Erzählfluss durch Rückblenden und Tagträume, die kindliche Eindrücke von Gewalt und Scham aufblitzen lassen.
Ware reduziert die für Comics typischen Onomatopoesien auf ein Seufzen und Schniefen, sogar der Vogelgesang verkümmert zur einzelnen Note, die im Zimmer des Einsamen verklingt.
Dieser deskriptive Einfallsreichtum spiegelt sich in den eingesetzten grafischen Mitteln. Der Künstler arbeitet mit einer den Empfindungen der Figuren entsprechenden kalten Farbpalette, nutzt das Prinzip Serie zur Darstellung der implodierenden Außenwelt, die so dämmrig ist, dass sie keine Schatten wirft. Mit gespielter Naivität montiert er Ausschneidebögen ("Kinderkram") als Einschübe in die Seitenfolge, der bastelnden Fantasie des Lesers vertrauend. Zu diesen grafischen Einschüben gehört auch eine Seite zum Ausschneiden, die wie eine Hommage an den fotografierenden Kollegen Lewis Baltz wirkt.
Ware sammelt Ansichten der amerikanischen Suburbs: Parkplätze und Wasserspeicher, Tankstellen und verdorrte Mittelstreifen von Zubringerstraßen. Rückseitig sprechen im PR-Ton gehaltene Ortsbeschreibungen der gezeigten Ödnis Hohn: "Beachten Sie die aufregende Anordnung der Fenster in immer gleichen Abstand. Alles harmoniert mit dem Lichtmasten, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt werden." Gulp.
Die große Fortschrittsparty war vorbei, als sich der heute 68-jährige US-Künstler Lewis Baltz Ende der 1960er-Jahre daranmachte, deren Überreste zu dokumentieren. Er fotografierte Straßenkreuzer, Schaufenster und Motel-Swimming-Pools ("The Prototype Works", 1967–76) ohne jenes magische Leuchten, das den Werbungen für die industrielle Warenproduktion eigen ist. Das Versprechen vom kollektiven Glück durch breit gestreuten Konsum hatte zwischen dem Beginn des Vietnamkriegs und der Erdölkrise 1973 seine Überzeugungskraft verloren. Der aus Kalifornien stammende Künstler richtete die Kamera auf rissige Betonfassaden und die fensterlosen Hallen von Industrieparks, die abweisende Rückseite der Technisierung. Die subversive Kraft der Fotografie liege darin, dass sie den Betrachter mit einer seinen Sehnsüchten zuwiderlaufenden Welt konfrontiere, sagte Baltz einmal.
Die Ausstellung in der Albertina zeigt nun die Werkgruppen des Künstlers, der seit 1987 in Paris lebt und mit der Kunst längst aufgehört hat. Die Serie "Tract Houses" (1969–71) stellt Fertigteilhäuser dar, die kurz vor ihrer Fertigstellung bereits wie Ruinen wirken. Die intendierte Glanzlosigkeit erreichte der Künstler, indem er Schatten vermied.
Er wählte häufig Frontalansichten, die die Fenster und Türrahmen zu geometrischen Linien abstrahieren. Der Raum schwindet zur Fläche, löst sich in Leere auf. Die extreme Nahsicht lässt die Oberflächen malerisch verschmiert wirken. Ansichten von Nicht-Orten sind inzwischen Klischees der zeitgenössischen Kunstproduktion: keine Akademieschau ohne Skilifte, Würstelstände und Häuslbauersiedlungen. Baltz gehört zur ersten Generation derer, die erhabene Landschaften entseelten und Architektur ohne Handschrift zeigten.
Im Jahr 1975 fand im Fotomuseum George Eastman House der US-Stadt Rochester die Gruppenausstellung "New Topographics" statt, an der neben Baltz auch das deutsche Künstlerpaar Bernd und Hilla Becher mit ihren Ansichten von Industriebauten teilnahm. "Ich erkannte damals, dass ich mit meinen Sachen nicht allein bin", erinnert sich Baltz. Wie die Bechers hängt der Amerikaner seine kleinformatigen Fotos in Rasterordnung an die Wand, was den unpersönlichen Eindruck der Bilder verstärkt.
Die Ausstellung stellt die Kunst von Baltz den Werken der Bechers und einem Objekt des Minimal-Art-Künstlers Donald Judd (1928–1994) gegenüber. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die Gefühle des Urhebers, seine Individualität in der Kunst zum Verschwinden bringen wollen. Dahinter mag das kulturkritische Anliegen stecken, die Hohlheit einer auf Selbstausdruck angelegten Konsumgesellschaft bloßzustellen. Der große Einfluss von Baltz & Co lässt sich aber auch anders erklären: Das schwarzweiße Nichts ist einfach cool.
Lewis Baltz: bis 2.6. in der Albertina