

Aus der dritten Welt in die geheime vierte Welt Europas
Mona Khalaf in FALTER 19/2014 vom 07.05.2014 (S. 20)
Mit der Graphic Novel Unsichtbare Hände lässt uns der Finne Ville Tietäväinen das Schicksal afrikanischer Bootsflüchtlinge nacherleben
Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist frei erfunden, aber es gibt tausende Variationen davon, die wahr sind." So steht es im Vorwort. Und es stimmt.
Die Graphic Novel "Unsichtbare Hände" steht für vieles. Es ist eine Geschichte über Brutalität und Realität von Armut, von der Ausnutzung unwissender Migranten in ihrem Kampf um ein besseres Leben – und letztendlich über ihren Kampf ums Überleben. Es ist eine Geschichte über Menschenhändler, Drogenhändler und Großgrundbesitzer in Europa, die ihren Reichtum auf Kosten von undokumentierten Migranten, entrechteten Arbeitskräften erwirtschaften. Es ist eine Geschichte über Glauben und Gerechtigkeit, über den Verlust von jeglichem Besitz – von allem, das einem einmal teuer war.
In der Hoffnung, sich das erträumte Leben aufbauen zu können, machen sich drei Freunde gemeinsam auf den Weg, ohne zu wissen, dass Europa viele Welten unter seinem Dach vereint – und auch so etwas wie eine Art "Vierte Welt" mit einem Leben in aus Plastikplanen zusammengeschusterten Baracken auf diesem Kontinent existiert. Auch dass jene, die dieses Wagnis auf sich nehmen, am Ende ihres Weges oftmals hoch verschuldet sind, ihrer Papiere beraubt wurden und mit einem Leben in Ungewissheit konfrontiert sind, ist wohl den wenigsten bekannt.
Der Titel des Buchs "Unsichtbare Hände" vom finnischen Autor Ville Tietäväinen passt wie angegossen auf die Geschichte. Er spielt sowohl auf das marktwirtschaftliche Konzept Adam Smiths der unsichtbaren, den Markt regulierenden Hand an als auch auf die Wege Gottes, die für Gläubige bereitgehalten werden.
Bevor Tietäväinen diese Geschichte über den Protagonisten Rashid und seine Freunde zu Papier brachte, widmete er sich mehrere Jahre einer intensiven Recherche über undokumentierte Migration nach Europa, vor allem aus Marokko nach Südspanien.
Die akribische Arbeit des Autors hat sich gelohnt: Die handelnden Persönlichkeiten sind fein herausgearbeitet, die Schauplätze desaströs und realistisch dargestellt, die Dialoge eingängig und zugleich vielschichtig in Ton und Inhalt.
Schroffer Zeichnungsstil
Trotz dieser bis ins kleinste Detail reichenden Erzählung – oder vielleicht auch genau deshalb – wirkt das Buch wie ein Film. Mit wenigen Farben, dicken Strichen und vielen Feinschattierungen gelangen Tietäväinen ausdrucksstarke Bilder.
Auch wenn man den grob anmutenden Zeichenstil vielleicht nicht mag, die "Unsichtbaren Hände" ziehen in den Bann und machen es dem Leser schwer, das Buch beiseite zu legen.
Tietäväinen interviewte für sein realistisches Drama, wie er es nennt, zahlreiche Migranten in Marokko, in den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, undokumentierte, in Südspanien beschäftigte Migranten und Mitarbeiter von internationalen Hilfsorganisationen.
Er forschte dabei gemeinsam mit dem finnischen Sozialanthropologen Marko Juntunen, der für ihn aus dem Arabischen übersetzte. "Und es war schockierend zu sehen, was für Plätze wir hier in Europa haben", sagt der Autor im Falter-Gespräch über die Zeit der intensiven Recherche, die ihn etwa in die Baracken von Arbeitern ohne Papiere im südspanischen Almeria brachte.
Realistisches Drama
Ausschlaggebend für die Geschichte der Graphic Novel sei eine Begebenheit in Paris vor rund 15 Jahren gewesen, erzählt Tietäväinen. Er, damals schon verheiratet und Vater einer kleinen Tochter, beobachtete einen seiner Schätzung nach gleichaltrigen Straßenverkäufer. Der Mann machte einen verarmten Eindruck auf Tietäväinen und wurde von einem Händler für seine Bemühungen, etwas zu verkaufen, aufs Gröbste beflegelt.
Tietäväinen identifizierte sich mit dem Straßenverkäufer, und Fragen tauchten auf: Was, wenn dieser Mann eine Familie zu versorgen hat? Was wäre er selbst bereit zu tun, wenn er nicht für seine Familie sorgen könnte, fragte sich Tietäväinen seither immer wieder und fühlte sich innerlich verpflichtet, eine Geschichte über undokumentierte Migranten in Europa zu schreiben. Rashid, seine Hauptfigur, kommt dem Leser genauso nahe wie der Straßenverkäufer, der den Anstoß für diese Graphic Novel gab.
Die Geschichte hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt – und wird es wohl auch in den kommenden Jahren nicht. In den vergangenen Monaten rückten die in Marokko liegenden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta immer wieder in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit. Erst Anfang Februar ertranken mindestens 15 Flüchtlinge bei dem Versuch, nach Ceuta zu gelangen. Ende Februar erstürmten rund 200 Flüchtlinge Melilla. Sie landeten in der spanischen Exklave, deren für insgesamt 480 Personen konzipiertes Lager mit über 1300 Flüchtlingen längst überfüllt ist. Nach Italien kamen vergangenes Jahr rund 43.000 Menschen über das Mittelmeer, im Jänner dieses Jahres landeten bereits über 2000 dort. Die Tendenz sei steigend, prognostizierte das italienische Innenministerium vor einigen Wochen. Im Oktober 2013 ertranken über 300 Menschen vor der Insel Lampedusa.
"Leider ist die Geschichte zeitlos", sagt Täiteväinen über seine Graphic Novel. Er hofft, mit dem Werk, das im Jahr 2011 auf Finnisch erschienen ist, Aufklärungsarbeit zu leisten und Bootsflüchtlingen eine Stimme zu verleihen. Auch das ist Tietäväinen gelungen. Umso besser, dass sein Werk wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung in andere Sprachen übersetzt wurde – und seit März auch für deutschsprachige Leser erhältlich ist. Pro verkauftem Exemplar gehen zwei Euro an die deutsche Nichtregierungsorganisation Pro Asyl.